2009-11-24

Willow Creek "entdeckt" zwanzig Jahre alte Konferenzform

Irgendwie verblüfft und enttäuscht war ich schon, als ich wieder einmal feststellte, wie sehr Willow Creek in einer modernen Gesellschaft verhaftet bleibt und sich nicht von seinen Formen und Prinzipien lösen kann. Und dann -anstatt in Kommunikation mit der Gesellschaft- auf eigene Faust Erkenntnisse machen muss, die andere schon längst hatten.

So lesen wir im Newsletter diesen Monats:
[...]Nachdem der Kongres dann begonnen hatte, setzte am zweiten Tag ein Gewitter-Sturm die Elektrizität außer Gefecht, was bedeutete, dass weder der Beamer noch sonst etwas funktionierten. Der Kongress arbeitet mit hochauflösenden DVDs - also mußten die Anwesenden 4 Stunden lang auf einen Stromgenerator warten. Um die Zeit zu überbrücken, baten die Kongress-Organisatoren die Besucher, die Zeit zu nutzen und in ihren Teams den ersten Kongress-Tag auszuwerten.

Als der Generator endlich zur Verfügung stand, konnte der Kongress fortgesetzt werden. Für das Willow Team vor Ort war das ganze ein Alptraum. Wollten Sie doch gerne den Besuchern einen reibungslosen Kongress anbieten. Aber ... als der Kongress zu Ende war, ergab sich ein überwältigendes Feedback.

Ganze Teams berichteten davon, dass es gerade diese 4 Stunden Team-Zeit waren, die Gott benutzt hatte, um die Impulse des ersten Kongress-Tages zu vertiefen und daraus ganz konkrete Entscheidungen abzuleiten. Was zunächst als Störung wahrgenommen wurde, erwies sich im Nachhinein als großer Gewinn.

Only God ... so heißt es bei Willow immer wieder! Allein Gott kann so etwas bewirken.
Ohne das Wirken Gottes auf diesem Kongress in Abrede stellen zu wollen, finde ich es trotzalledem irgendwie wieder bezeichnend für das eingefahrene Willow-Denken: Kongresse funktionieren mit Beamern und DVDs, und wenn es Ausfälle gibt, ist das eine Katastrophe.
Kongresse funktionieren von vorne, und wenn man Teams und Gruppen Freiräume gibt, einfach drauflos zu arbeiten, dann ist das eine Katastrophe. Halleluja, welch Wunder Gottes, wenn es dann doch funktioniert, und auch noch als richtig gut empfunden wird!

Mich stimmt diese Geschichte eher ein wenig traurig, auf jeden Fall jedoch nachdenklich. Denn schließlich ist die Erkenntnis des beschriebenen Effektes nicht neu. Harrison Owen hatte ähnliche Erkenntnisse bereits 1985, und zwar nicht für eine christliche, sondern für eine Organisationsentwickler-Konferenz. Er schuf damals Open Space, heutzutage eine von mehreren Arten einer sogenannten Unkonferenz (Unconference), z.B. neben dem Bar Camp, welches es als Konferenzform nun auch schon seit mindestens vier Jahren gibt .

Wieso geht also eine so große Institution wie Willow Creek, die sich eigentlich genau mit solchen Themen, wie zeitgenössische Gesellschaft und ihre Erscheinungsformen, Tagungen und Kongressen usw. auskennt, hin und stellt so dar, als hätten sie es ganz plötzlich und völlig neu entdeckt?

Auch hier wieder kann ich nur sagen: Liebe Mitchristen, bleibt am Puls der Zeit! Sonst lauft ihr, wie leider so oft, nur der Gesellschaft hinterher.

Wie schwer scheint es doch im christlichen Sektor zu sein, die Macht des Expert-on-front aufzugeben, die Planungssicherheit der Agenda, die Steuerung und Kontrolle durch Handlungsvorgaben an Arbeitsgruppen und Konferenzteilnehmer, und stattdessen Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen in die Teilnehmer und deren Kompetenz, Vertrauen in das, was in einer Gruppe auf dynamische Weise entstehen kann (Emergenz, Schwarmintelligenz, Gruppendynamik, wasauchimmer) und vor allem mal: Vertrauen in eben den Gott, den sie selbst postulieren.

Es ist für mich wirklich schwer zu verstehen, wie man die lebendige Dynamik biblischer Geschichten lesen und glauben kann, und dann völlig erstaunt und verblüfft vor der lebendigen Dynamik der Wirklichkeit steht, und Plänen, Konzepten und Techniken mehr vertraut hat, als dem lebendigen Gott?

Das ist für mich irgendwie bizarr!

2009-11-19

Was ist eigentlich ein "Kategorienfehler" ?

Was ist eigentlich ein Kategorienfehler?

Laut Wikipedia:
Unter Kategorienfehler versteht man eine bestimmte Art von Fehlschluss. Ein Kategorienfehler liegt vor, wenn ein Terminus einer bestimmten Kategorie durch einen Terminus ersetzt wird, der nicht zu dieser Kategorie gehört.
Unter dem Link zum Lexikon der Linguistik finden wir ein Beispiel:

Ein Ausländer kommt zum ersten Mal nach Oxford oder Cambridge, und man zeigt ihm eine Reihe von Colleges, Bibliotheken, Sportplätzen, Museen, Laboratorien und Verwaltungsgebäuden. Nach einiger Zeit fragt er:

„Aber wo ist denn die Universität? Ich weiß jetzt, wo die Mitglieder eines College wohnen, wo die Verwaltung untergebracht ist, wo die Wissenschaftler ihre Versuche machen und so weiter. Aber warum zeigt man mir nicht die Universität, wo die Mitglieder eurer Universität wohnen und arbeiten?“

Dann muss man ihm erklären, dass die Universität nicht noch eine weitere ähnliche Institution ist, ein weiteres Gegenstück zu den Colleges, Laboratorien und Verwaltungsgebäuden, die er schon gesehen hat. Die Universität ist einfach die Art und Weise, in der alles das organisiert ist, was er schon gesehen hat. Wenn man das alles gesehen und die Art und Weise der Zusammenarbeit verstanden hat, dann hat man die Universität gesehen.

Ein Kategorienfehler liegt also dann vor, wenn Begriffe miteinander in Beziehung gebracht werden, die gar nicht zur selben Kategorie gehören.

Ein Kategorienfehler kann aber auch dadurch entstehen, dass in einer Argumentation einem Wort zwei verschiedenene Bedeutungen aus unterschiedlichen Kontexten zugewiesen werden, ähnlich einem "Teekesselchen" (Bank als Sitzgelegenheit und Bank als Geldinstitut).
Meist ist die Verwechselung nicht so klar einsichtig wie in dem Bankbeispiel. Sie tritt meist dann auf, wenn oberflächlich gesehen klare Begriffe von verschiedenen Fachkreisen mit spezifischen Bedeutungen versehen werden.

So ist es in diesem Sinne ein Kategorienfehler, wenn in einer Diskussion um das Wort "Emergenz" auf einen Zusammenhang mit der "Chaostheorie" hingewiesen wird, und als Erläuterung dann der Begriff "Chaos" durch das biblische Tohuwabohu erläutert wird.

Der Fehler besteht darin, dass die Chaosforschung (wie sie besser genannt wird), die sich mit der Theorie der komplexen Systeme (wie sie korrekt heißt) auseinandersetzt, als Teilgebiet der Mathematik den Begriff "Chaos" ganz anders definiert. Sie sieht darin eine bestimmte Form von Prozess, dessen Vorhersagbarkeit stark reduziert ist, da eine minimale Veränderung der Eingangsvariablen zu einem stark verschiedenen Resultat am Ende führen. Dies ist oft auch auf Wechselwirkungen zwischen Variablen des betrachteten Systems zurückzuführen.
Einen Prozess als "chaotisch" zu bezeichnen ist in der Mathematik lediglich die sachliche Bezeichnung einer bestimmten deterministischen Qualität.

Der biblische Begriff Tohuwabohu hingegen drückt prinzipiell einen Zustand (und nicht einen Prozess) aus, der Wüste und Leere, Verwirrung und existenzielle Unordnung beinhaltet und durch göttliches Einwirken erst in den Zustand des "Kosmos", also der Schöpfungsordnung, überführt werden muss. Der Begriff hat somit eine ontologische, durchaus auch wertende Bedeutung und Qualität.

Aus den genannten Beschreibungen geht hervor, dass eine Verwechselung oder Vertauschung dieser beiden Begrifflichkeiten in einer Argumentation zwangsläufig zu Verwirrung und zu Fehlschlüssen führen muss, insbesondere wenn damit auch noch Wertungen verbunden sind.

2009-11-18

Stilblüten ...

Mir ist gerade eben beim Aufräumen ein altes Buch in die Hände gefallen, das sich auf christlicher Basis mit Hilfen für Gemütskranken beschäftigt. Neben so manchen durchaus richtigen und wichtigen Aussagen sind in dem Buch jedoch auch etliche Plattitüden, indifferente Aussagen und Vereinfachungen und Vermischungen zu finden.

Am Interessantesten sind jedoch ein paar Beispiele wirklich schlechten Schreib- und Denkstiles.

So schreibt der Autor:

Wenn wir nach der Ursache der Melancholie forschen, wissen die Kranken oft nichts Bestimmtes anzugeben. Bei einer nicht geringen Zahl setzt die Schwermut ohne jeden erkennbaren Grund ein. Häufig gibt der Kranke jedoch ein bestimmtes Erlebnis an, ...
Na was ist denn nun der häufige Fall? Die Unbestimmtheit, oder die Bestimmtheit?

Mit zunehmender Besserung schwächen sich die krankhaften Erscheinungen mehr und mehr ab.
Nun, das ist quasi eine Nicht-Aussage, da das Abnehmen krankhafter Erscheinungen wohl genau die Definition von zunehmender Besserung ist.

Da die Melancholie eine organisch bedingte Krankheit ist, deren Ursache bis heute noch nicht genau erklärt werden konnte...
Frage: Wie kann man die organische Bedingtheit behaupten, wenn doch die Ursache ungeklärt ist? Oder ist "organisch bedingt" nicht eben die Darstellung einer Ursache?
... während er im depressiven Stadium aufgrund seiner Entschlußunfähigkeit und geistigen Schwerfälligkeit von sich aus seine Stellung aufgibt ...
Verwirrend: Wie kann Entschlußunfähigkeit mit dem aktiven Treffen eines Entschlusses in einem Satz genannt werden?

Nun, wie gesagt, das Buch ist schon älter. Aber es ist durchaus ein Symptom für die Art, wie leider manchmal immer noch argumentiert und publiziert wird. Wenn gerade auch in heutiger, in wissenschaftlichem und logischem Denken trainierter Kultur auf solche mit logischen Stilblüten gespickte Weise argumentiert und gelehrt wird, wird verständlich, warum Christen auf entsprechenden Schauplätzen nur schwer Gehör finden.
Mit tut so etwas immer irgendwie weh.

2009-10-13

Debatte um Emerging Church, Postmoderne und relative Wahrheit

Vor Kurzem ist mir ein bedenkenswerter Aspekt in unseren Diskussionen um Emerging Church, Postmoderne und die Kritiken daran aufgefallen, und den versuche ich hier einmal zu formulieren.

Oft drehen sich Diskussionen um das Für und Wider der Emerging Church um das Thema der Abkehr von absoluten Wahrheiten, um den Relativismus. Die Frage, die die Debatten bestimmt, lautet dann meist: "Können wir eine Relativierung der Wahrheit dulden?" . Und oft werden Gespräche auf der Grundlage geführt, Emerging Church sei zwangsläufig ein Vertreter des Relativismus, da sie sich "Kirche für die Postmoderne" als Etikett anklebt. Entsprechend, sei die logische Folgerung: Wenn ich den Relativismus ablehne, muss ich also auch die Emerging Church ablehnen.

Ein weiterer Denkfaden in der Diskussion ist dabei, dass es darum gehe, eine Entscheidung für Relativismus oder Absolutismus zu treffen, und entsprechend sich für oder wider die Postmoderne, und damit für oder wider Emerging Church zu entscheiden.

Meiner Ansicht nach geht diese Diskussion aber völlig am Kern der Sache vorbei.

Um diese Ansicht zu erläutern muss ich ein wenig ausholen.

Wir leben in einer Zeit, die wir gut und gerne als das Informationszeitalter bezeichnen können. Information und Wissen ist multimedial überall präsent. Das allgemeine Bildungsniveau, obwohl oft beklagt, ist geschichtlich gesehen heute immens hoch.
Konnte man in früheren Zeiten sagen, dass die Menschheit entweder eine Sache X wusste oder nicht wusste, dann konnte man nur noch darüber reden, ob die Sache X in der Schule unterrichtet wurde oder nicht.
Wissen oder Nichtwissen, das waren die Alternativen. Debatten über Sachverhalte wurden in elitären akademischen Zirkeln geführt, und nur Ergebnisse wurden zum Allgemeingut.

In jüngerer Zeit haben wir jedoch immer mehr einen Zustand erreicht, in dem wir es nicht mehr mit ("gesichertem") Wissen zu tun haben, sondern mit Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Das Erleben, dass z.B. die Quantenphysik unsere Alltagserfahrung auf den Kopf stellt, wird zum schulischen Unterrichtsstoff. Debatten über wissenschaftliche Sachverhalte werden öffentlich diskutiert. Medien machen Debatten in Form von Podiumsdiskussionen allgemein zugänglich, Internet und Buchdruck haben sich von reiner Wissensvermittlung in Debattenplattformen verwandelt.

Ein Heranwachsender, der sowohl mit der neuen Bildung, den neuen Medien als auch eben mit dem Erleben dieser Debattenkultur heranwächst, steht nun vor der Herausforderung, diese teilweise konträren Informationen einordnen zu müssen.
Da ist zum Beispiel die Atheismusdebatte, die gerne auch auf dem Boden der Evolutionstheorie ausgetragen wird.
Und der junge Mensch wird nun mit einer Fülle an offensichtlich schlüssigen, logischen Argumenten angefüllt. Offensichtlich, bis die Gegenseite mit einem System ebenso schlüssiger und logischer Argumente antwortet. Welche sich im Rahmen von wiederum schlüssiger und logischer Konterargumenten als vielleicht nicht ganz so logisch und schlüssig herausstellen. Und so weiter und so weiter.

Der junge Mensch will aber letztlich einfach leben und an dieser Gesellschaft teilhaben. Da offensichtlich aber keine der beiden Seiten ohne weiteres erkennen lässt im Unrecht zu sein und die andere somit automatisch im Recht wäre, ist er gezwungen, eine Entscheidung zu treffen.

Diese sieht zunehmend so aus, dass er sich der Seite anschliesst, die ihm irgendwann als die Schlüssigere erscheint; als die, mit der er sich wohl fühlen kann. Die ihm intuitiv "passend" oder "stimmig" zu sein scheint. Die irgendwo "authentisch" klingt.
Und danach entscheidet er sich, an keiner weiteren Debatte mehr teilzunehmen. Schluss mit dem Hin und Her, sollen sich andere die Köpfe heiß reden, während ich zufrieden meinen Lebensweg gehe.

So kommt es, dass sich Egon auf die eine Seite stellt, und fertig. Und Hugo stellt sich auf die andere Seite, und gut ist. Jetzt haben die beiden aber ein Problem, wenn sie aufeinandertreffen. Sollen sie nun ihre Seite vertreten und in eine Debatte einsteigen? Nun, beide haben irgendwann festgestellt, dass alle Debatten irgendwo zu keinem klaren Ergebnis führen, und haben sich entschieden, keine ernsthaften Debatten mehr zu betreiben. Beide sind sich der Unfertigkeit und Beliebigkeit ihrer eigenen Einstellung bewusst, und lassen sich daher gegenseitig in ihrer Ansicht stehen. Wenn der Andere mit seiner Entscheidung glücklich ist, soll er es sein, ich bin es auch.

Aus diesem Erleben also kommt es zur Relativierung von Wahrheitsansprüchen. Selbst die Seite, die mich letztlich überzeugt, kann nicht den Anspruch erheben, fehlerfrei und kritiklos wahrhaftig zu sein. Sie ist lediglich für mich irgendwo einsichtiger, "authentischer" als die andere, mehr nicht. Also gibt es keine absolute Wahrheit. Nichts, von dem ich glaube, dass ich den anderen damit letzlich wirklich überzeugen könnte, oder er mich.

In diesem Umfeld also leben wir, und wir treffen als Gemeinden auf eine Gesellschaft, in der immer mehr dieses Erleben Raum findet.

Die Frage ist also gar nicht, ob wir als Gemeinden Postmoderne gut finden, und ob wir den Relativismus gut finden. Er ist da. Als Teil unserer Gesellschaft. Punkt.
Die Frage ist ganz einfach: Wie gehen wir damit um? Und weiter:
Wie gehen wir damit um, im Kontext eines Missionsauftrages, der uns auffordert, die Botschaft auch (und gerade) in diese Gesellschaftsbereiche zu tragen?

Einfach hinzugehen und zu sagen: "Du liegst falsch, du hast nicht recht mit deinem Weltbild" funktioniert nicht. Dem anderen zu sagen: "Dein Relativismus stimmt nicht, aber ich kann dir etwas von der wirklich wahren Wahrheit erzählen", funktioniert wohl auch nicht. Zu sagen: "Komm wir reden über dein Weltbild und ich bringe dir überzeugende Argumente für meines" funktioniert aus obigem Kontext heraus zwangsläufig erst recht nicht! Also was?

Die Emerging Church kann für uns insofern ein Leitbild sein, dass sie auf die postmoderne Kultur und ihr Wesen hinweist, sie quasi darlegt.
Sie versucht uns zu erläutern, wie diese Generation/Kultur denkt, wie sie empfindet. Und sie kann insofern ein Leitbild sein, dass sie die richtigen Fragen an dieser Stelle stellt. Sie versucht herauszufinden, wie denn diese Generation/Kultur denn anzusprechen ist.

Zusammengefasst: Die Frage "ob" oder "ob nicht" geht am Problem vorbei, denn wir haben in dieser Hinsicht viel weniger Optionen, als wir denken, bzw. unsere Optionen sehen ganz anders aus, als wir meinen.
Die Frage ist vielmehr "wie?" - "Auf welche Weise?". Und es wird Zeit, dass wir uns dieser Frage langsam aktiv zuwenden. Es wird Zeit, dass wir uns um Antworten kümmern, die auch passen.

2009-10-02

Postmodern oder einfach nur "da"

Wenn man sich mal wieder in die Debatte um die Emerging Church auf manchen Blogs einliest, so wird ein interessantes Phänomen sichtbar.

Während die einen die Postmoderne beschreiben, und damit auch ihre Sicht der Kirche in der Gesellschaft, bezweifeln andere, wie Sebastian Heck, dass es die Postmoderne überhaupt gibt.
Letztlich kommt man zu der Aussage, dass zumindest die Postmoderne in Deutschland nicht wirklich angekommen ist, und dass Frankreich die Thesen der Philosophen sowieso bereits längst überwunden hat, während in unsere Kirchenwelt nun wieder stark verzögert die Welle aus Amerika rüberschwappt.

Da wird dann über Derrida und Lyotard debattiert, usw. usw.

Dabei scheint mir aber zu sehr die Frage nach dem "Nächsten" (personal gemeint) verdeckt zu werden. Mal ehrlich: Meine Arbeitskollegen, meine Kinder, die Freunde meiner Arbeitskollegen und meiner Kinder ... wo findet man denn jemanden, der Lyotard und Derrida gelesen hat? (Geschweige denn, verstanden).

Damit gehen Debatten völlig an dem eigentlichen Hintergrund vorbei.

Wichtig ist doch einzig und allein die Fragen zu stellen:
  • Wie denkt, wie empfindet, wie erlebt der zeitgenössische Mitbürger in meiner persönlichen Umgebung die Welt?
  • Und wie denke ich, empfinde ich, erlebe ich als Christ und Teilnehmer der Gesellschaft meine persönliche Umgebung, meine Mitmenschen und die Welt?
Rechne ich der christlichen Botschaft einen Wahrheitsgehalt zu? Wenn ja, wie gehe ich dann damit um? Was macht das mit mir? Was mache ich mit meiner Umwelt?

Diese Antworten können nun aufgrund persönlicher Unterschiede und aufgrund von Millieufragen ganz unterschiedlich beantwortet werden. Aber beantwortet werden müssen sie. Und zwar so, dass eine Authentizität zwischen Denken, Reden und Handeln entsteht.

Wenn ich mit dem Blick auf den Nächsten in meiner Umgebung an das Thema Glaube herangehe, dann trete ich in Beziehung. Dann stelle ich Fragen, höre zu, und setze mich auseinander. Versuche Antworten zu finden.

Dann ist es mir aber eigentlich völlig egal, was irgendwelche Philosophen denken oder gedacht haben. Sollten philosophische Prägungen für die Denkweise meines Gegenübers verantwortlich sein, sind sie sowieso unbewusst und tief verborgen. Was zählt, ist die Erfahrung, die jeder mit seiner "Philosophie" im täglichen Leben macht. Und da kann man hinterfragen, ob diese etwas taugt oder nicht.

Wollen wir den Glauben an unsere Mitmenschen in unserem Umfeld weitergeben, so ist letztlich egal, ob diese das Etikett "postmodern" zu recht oder zu unrecht aufgeklebt bekommen. Ob sie "postmodern" sind oder nur "ziemlich postmodern" oder gar nur "im Ansatz postmodern". Was soll's?

Was wir von der Emerging Church -oder: mir gefällt ja Emerging Conversation auch besser- lernen können, ist in jedem Fall die offene Akzeptanz des Anderen, die überhaupt in die Lage versetzt, frei und offen mit dem anderen zu reden, ohne ihn gleich vor den Kopf zu stoßen.

Und was wir lernen können ist, die eigene Position auch immer wieder kritisch zu hinterfragen, und mit seinen Erkenntnissen demütig und veränderungsbereit zu bleiben.

Zuguterletzt können wir dann lernen, auf den anderen und seine Lebenswelt einzugehen, Bezug zu nehmen, wenn wir das Evangelium verkünden. Aber das ist letztlich alter Tobak, den uns Missionare schon längst hätten beibringen können.

2009-09-28

Gemeinde in der Gesellschaft und die Politikverdrossenheit

Inkarnatorische Gemeinde, Relevanz in der Gesellschaft.

"Ich bin sicher, dass sie das Richtige ankreuzen" sagte unser Pastor letzten Sonntag im Gottesdienst.

Heute lese ich einen Artikel, und darin wird von "inkarnatorischer Gemeinde" gesprochen. Gemeinde im kulturellen und sozialen Kontext.

Während sowohl in Schulen als auch bei Parteien eine sog. Politikverdrossenheit beklagt wird, drücken es gerade auch jüngere Bundesbürger konkret aus, was sie empfinden: Bei all dem unsachlichen Werberummel, gegenseitige Beschuldigungen, eigenen Versprechungen, die mal gehalten werden und mal nicht, politischem Um-den-Brei-herumreden und Polit-Skandalen...
Wem sollte man denn seine Stimme geben?

Die politische Landschaft ist unübersichtlich geworden. Vom Normalbürger eigentlich nicht mehr zu durchschauen.

Gleichzeitig wird der Ruf in Kirchen laut, wieder mehr Teil der Gesellschaft zu werden, sich auch auf seine Bürgerpflichten, gerade auch als Christ, zu besinnen.

Meine Frage, leider mal wieder viel zu spät, ist: Inwieweit machen wir denn als Gemeinden eigentlich in dieser Hinsicht ernst?

Geben wir unseren jungen Leuten, oder auch den verdrossenen nicht-mehr-so-jungen Menschen in unserer Gemeinde, Informationen an die Hand? Geben wir ein Leitbild?

Letzlich bleibt in Gemeinde jeder sich selber überlassen, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen. Und damit kommt es häufig zur Nicht-Entscheidung.

Wenn es Kirchen und Gemeinden so wichtig ist, dass Gemeindeglieder ihre Bürgerpflicht wahrnehmen, wenn es ihnen ebenso wichtig ist, aufgrund christlicher, biblischer Grundlage Einfluss auf die politische Landschaft zu nehmen, wieso gibt es dann keine Infoveranstaltungen zu den Parteiprogrammen?
Wieso muss man ausschliesslich für sich selbst einen Wahlomaten bemühen?

In Gemeinden findet man leichter ein Public-Viewing zur Europameisterschaft als Politic-Informing zur Europawahl.

Wohlgemerkt: Ich rede hier nicht davon, dass Gemeinde Manipulation betreiben soll und auf die Wahl einer bestimmten Partei durch die Gemeindeglieder hinwirken soll. Jeder soll weiterhin eigenständig seine Entscheidung treffen.

Es geht vielmehr darum, dass den (jungen) Teilnehmern am Gemeindeleben durch diese Art von Veranstaltung der Bezug zwischen Gemeinde und Gesellschaft, zwischen Glauben und Alltag, zwischen Christ-sein und Bürger-sein erfahrbar nahe gebracht wird.
Darum, dass durch einen gemeinsamen Austausch, durch Gespräch über gesellschaftliche Themen, die uns alle direkt betreffen, auch ein Hintergrundwissen vermittelt und Entscheidungshilfen an die Hand gegeben werden.

2009-09-09

Lehrer, Aufmerksamkeitsdefizit und Frontalunterricht

Gestern abend gab es einen interessanten Beitrag im Fernsehen, in dem eine junge Hauptschullehrerin bei der Arbeit beobachtet und begleitet wurde.

Man berichtete von den vielen sozialen Problemen, die sie als Lehrerin neben der Vermittlung des Unterrichtsstoffes noch zu meistern habe. Davon, dass 36 Prozent der Klasse nicht richtig deutsch sprechen, und daher manche Aufgaben im Deutschunterricht von ihnen nicht zu bewältigen sind. Von den Aufmerksamkeits- und Verständnisschwächen im Bereich mathematischer Aufgaben.

Offensichtlich kam sie mit ihrem Unterricht bei den Schülern an, denn mit viel Mühe und Einsatz versuchte sie, einen abenteuerlichen Unterricht zu gestalten. Durch Anfassen, Sehen von selbstgebastelten Modellen, riechen, schmecken. Gruppenarbeiten, in denen die Schüler selbst gefordert sind, Beiträge zu erarbeiten.

Eine zentrale Aussage war, das die Vermittlung des Unterrichtsstoffs bei den Schülern überhaupt keine Chance hätte, wenn sie den regulären Frontalunterricht durchziehen würde.

Nun frage ich mich: Wenn solche Erkenntnisse im Bereich der Erziehung und Pädagogik doch allgemeines Wissensgut sind, wieso wir glauben, dass wir Menschen mit einem Frontalgottesdienst erreichen können. Durch unsere Gewohnheit, abstrakte Lehren rein verbal durch eine Kanzelpredigt zu vermitteln, haben wir nicht nur diese Generation, sondern auch diese soziale Schicht von vornherein aus der Gottesdienstbeteiligung ausgeschlossen.
Machen wir das eigentlich bewusst? Wollen wir das so?

Eine postmoderne Begegnung

Gestern abend traf ich zufällig in der S-Bahn jemanden wieder, der bei uns in der Gemeinde groß geworden war, jetzt aber außerhalb unserer Stadt studiert. Bei dem Gespräch ging es dann irgendwann auch um das Thema Glauben bzw. Gemeinde.

Interessant war für mich die Aussage: "Ich habe mich am Studienort keiner Gemeinde angeschlossen. Es gibt dort zwar eine, aber ich möchte mit meinem Leben und Glauben erstmal selber klar kommen, und wenn ich möglicherweise sogar mal regelmäßig zu der Gemeinde ginge, würde ich da wahrscheinlich schnell zur Mitarbeit eingebunden. Das kann ich grad gar nicht brauchen, ist aber irgendwie so in unseren Gemeinden."

Ja? Ist das so? Vielleicht. Vielleicht sogar ziemlich sicher, denn unsere Gemeinden klagen ja immer über mangelnde Mitarbeiterzahlen für die ganzen "Arbeitsgruppen" und "Projekte", die so laufen.

Und da fällt mir sofort auf, was mir diffus immer etwas Bauchschmerzen an unserem Gemeindeleitbild bereitet hat:

Wir wollen dazu beitragen, dass Menschen zum Glauben an Jesus Christus finden, ihn als Hilfe für ihr Leben erfahren und engagierte Christen werden
(Hervorhebungen von mir)

Während das Thema Lebenshilfe durchaus ein enorm wichtiger Punkt ist, bleibt die Frage, wie denn das Wort "engagiert" zu verstehen ist.

Engagiert bezeichnen wir meist jemanden, der sich einsetzt. Der Zeit, Geld, Kreativität für eine Sache einsetzt. Für eine Sache einsteht oder gar kämpft. Das Wort "engagiert" kommt also aus dem aktivistischen Bereich. Greenpeace-Aktivisten sind engagiert. Die Gewerkschaft ist engagiert. Autoverkäufer sind engagiert.

Was aber ist ein "engagierter" Christ? Oder was versteht die Allgemeinheit der Gemeindeglieder darunter? Ein Christ --oder besser: ein Gemeindemitglied-- welcher sich als Mitarbeiter in mindestens einem Arbeitsbereich hervortut? Welcher mehrere Abende die Woche mit Gemeindegruppen und Gemeindeterminen verbringt?

Ist das das Bild, was wir den Jugendlichen in unserer Gemeinde vermitteln? Dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Jugendlichen die Gemeinde (sprich: Das Beteiligtsein an einer Gemeinde) verlassen, sobald sie sich vom Elternhaus lösen und womöglich in eine andere Stadt ziehen.

Nicht nur, dass unsere "Gemeindekinder" plötzlich den Kontakt zu einer Gemeinde verlieren. Nein, das funktioniert auch andersherum. Schließlich leben wir in einer Großstadt mit einer Universität, mit Ausbildungsplätzen. Viele Jugendliche kommen hierher, um in das Berufsleben einzusteigen. Sie kommen von außerhalb, haben sich gerade von ihrer Heimatgemeinde gelöst.

Aber kommen sie in unsere Gemeinde? Suchen sie unsere Gemeinschaft? Wohl äußerst(!) selten. So ziehen unsere Jugendlichen aus Stadt und Gemeinde weg, und keine anderen Jugendlichen in die Gemeinde ein. So entsteht der Einbruch der 20+ jährigen in Gemeinde.

Hinzu kommt noch, dass es für Jugendliche in dieser Altersgruppe, die reflektierter und differenzierter mit dem theologischen Gedankengut umgehen, plötzlich nicht mehr so einfach ist, ihre Meinung, Ansichten, Fragen in Gemeinde offen zu äußern. Auch das war kurz Thema in diesem Gespräch. Die Befürchtung, in der Gemeinde am neuen Ort nicht einfach akzeptiert zu sein, wenn man sich als "Christ" bezeichnet und doch mit zweifelhaften Fragen oder "weltlich" geprägten Ansichten auftritt. Als nicht in der Gemeinde geborener kann man da leicht zum Missionsobjekt werden.

Auch hier wieder die Frage: Wie gehen wir als Gemeinde eigentlich mit den Menschen um uns herum um? Welche mentalen Grenzen von "drinnen" und "draußen" bauen wir auf?

Es bleibt der Eindruck, dass offensichtlich Gemeindekinder, die während einer wichtigen Entwicklungsphase Gemeinde hautnah erlebten vielleicht Jesus Christus, auf jeden Fall aber nicht unbedingt die Gemeinde als "Hilfe für ihr Leben" erfahren haben. Zumindest nicht in den letzten Jahren ihres Heranwachsens.

Das ist ein alarmierendes Zeichen, und daran müssen wir arbeiten. Wir sollten dazu mal eine Arbeitsgruppe gründen und ein paar Mitarbeitertermine zu dem Thema einplanen...

2009-09-04

Morgengedanken: Worum geht es eigentlich?

Heute morgen kam ich aus dem Haus, als unser Nachbar gerade dabei war, mit so einer elektrischen Superpuste das Laub von unserer Straße zu blasen, dass der Sturm über Nacht von den Eichen gerissen hat. Er rief zu mir herüber: "Was für eine Schweinerei, ne?" und die einzige Antwort, die mir einfiel war: "Is eben Natur!".

Du meine Güte! Die ganze Zeit auf dem Weg zur S-Bahn dachte ich daran, wie wir immer mehr die Natur aus unseren Städten verdrängen wollen. Sie soll keinen Schmutz machen, keine Arbeit. "Ich kann nicht mehr so im Garten arbeiten, wie früher, deswegen wollte ich den Rasen wegmachen und durch schöne Pflastersteine ersetzen." Und: "Das Heckeschneiden ist so aufwändig, ich werde die Hecke wegmachen und durch einen Zaun ersetzen. Grüne Stahlnetzgitter, die sind haltbarer wie Holzlatten" usw. usw.

Als ich weiter auf dem Weg zur Arbeit war, hörte ich einige Gespräche in den Bahnen, teilweise am Handy, und das Ganze verlief in einem noch globaleren Gedanken. Brauchen die Menschen hier um mich herum eigentlich Gott? Und wenn ja, warum? Was würde das in ihrem Leben verändern?

In den Gesprächen bezüglich Veränderung in unserer Gemeinde, Relevanz der Kirche in der Gesellschaft und persönliche Evangelisation kommt schnell der Punkt, wo es um Aktivitäten geht. Welche anderen Angebote sollen wir machen? Mit welchen Aktivitäten können wir Leute erreichen? Welche Projekte müsste man starten, um relevant für die Gesellschaft zu sein? - Und dann wenig später natürlich: Wo sind die, die die Initiative ergreifen? Wo sind die Mitarbeiter, die Zeit in die Projekte investieren?

All diese Stränge fügten sich heute morgen zu einem Gedanken zusammen, als ich auf der Arbeit ankam:

Zu der Frage: "Worum geht es eigentlich?" und zu der spontanen Antwort: "Um Frieden!"

Frieden - ein Oberbegriff, ein umfassendes Konzept für weitere Dinge, die sich darunter subsummieren.

Frieden, darin steckt auch das Wort zu-frieden. Zufrieden sein, mit der Umwelt, mit dem, was man hat (das heißt aber nicht Status Quo!! Es geht dabei auch um Möglichkeiten die man "hat"!, Chancen zur Veränderung, die durchaus vorhanden sind, im Gegensatz zu den nicht vorhandenen Möglichkeiten).

Frieden - zufrieden - darin steckt auch Versöhnung. Das Versöhnt-Sein mit der Lebenssituation, in der man steckt. Mit dem Leben an sich. Mit den Veränderungen, die das Leben mit sich bringt. Auch mit dem Sterben.

Wenn ich mich frage, wo es uns mangelt, wo es MIR mangelt, so stelle ich fest, dass ich all diese Probleme und Fragen auf dieses Grundkonzept zurückführen kann: Unfrieden. Unzufriedenheit und Unversöhntheit.

Und alles was ich in den letzten Wochen und Monaten erlebt habe, was mich belastet hat, und auch die Erlebnisse heute morgen auf dem Arbeitsweg lassen sich darauf zurückführen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die meisten Generationen "Krieg" nicht mehr kennen. Wir leben in relativer wirtschaftlicher Stabilität (trotz sog. Wirtschaftskrise), wir leben in einem relativ sicheren, freien Staat. Und doch: Wenn wir beobachten, wie die Beziehungen zwischen Menschen aussehen -egal ob auf persönlicher, gemeinschaftlicher oder beruflicher Ebene-, so ist ein allgemein latenter Unfriede zu beobachten.

Gleichzeitig aber auch eine Sehnsucht nach Frieden. Und ich denke, das ist der wesentliche Punkt, wo wir als Christen, als Gemeinde einen Unterschied machen könnten. Das ist der Punkt, über den es nachzudenken gilt, aber an dem wir selbst noch enorm arbeiten müssen. Die Frage: "Wie kann ein Leben in Frieden gelingen?"

Und ich denke, dass ist die wesentliche Frage, die uns zur Umsetzung unseres Leitbildes weiterhelfen kann: "Wir wollen dazu beitragen, dass Menschen zum Glauben an Jesus Christus finden, ihn als Hilfe für ihr Leben erfahren, und engagierte Christen werden".

2009-09-01

Steinmetze, Kathedralen ... und der Basar

>>>Umgeben von Steinbrocken saßen drei Steinmetze unter einem Bretterdach und schlugen aus Blöcken Figuren und Rosetten. Ein Mann stellte sich dazu und beobachtete ihre Arbeit. "Sagt mir, was ihr da macht?", fragte er sie. Einer sagte ihm: "Ich verdiene hier mit meinen Händen das Brot für mich und meine Familie". Der andere: "Ich habe gelernt, Steine zu behauen, und das macht mir Freude". Der dritte antwortete: "Ich baue eine Kathedrale".<<<

Eine nette Geschichte, die ich in den letzen vier Tagen gleich dreimal in unserer Gemeinde zu hören bekam: Im Rahmen einer Andacht am Mitarbeitertag, als Besinnungstext in unserem Gemeindeblatt und als Predigttext am Sonntagmorgen durch einen Gastprediger.

Natürlich ist diese Geschichte eine nette Metapher, und soll auf die drei verschiedenen Perspektiven hinweisen, mit denen wir an unsere Gemeindemitarbeit herangehen können. Natürlich ist die Kathedrale ein brauchbares Bild dafür, dass wir ja alle am Reich Gottes bauen, und Jesus ist der Bauherr.

Und doch: Irgendwie machte mich dieses Bild jedesmal ziemlich nervös.

Woran liegt das? Dem möchte ich mal ein wenig nachgehen.

Vielleicht daran, dass ich mich frage, wieso immer noch solche mittelalterlichen Metaphern benutzt werden, um die Gemeinde zu motivieren. Kathedralenbau ist uns heutzutage fremd. Uns ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie es ist eine Kathedrale zu bauen. Mit überaus enormem Aufwand. Über Generationen hinweg. Wir wissen nicht, wie es ist, an so einem Bau teilzuhaben, bei dem Generationen(!) von Arbeitern ihr Leben lassen, ohne wirklich eine Vorstellung vom fertigen Bauwerk bekommen zu haben.

Vielleicht liegt es auch daran, dass heutzutage der Tempelbegriff keine Bedeutung mehr hat. Das Konzept des Sakralen Gebäudes ist Menschen heute fremd. Von niemandem auf der Straße oder in den Büros oder gar Schulen kann man Verständnis für den Begriff "Kathedrale" erhalten. Ein Gebäude soll einen Zweck haben. Soll zu etwas nütze sein. Entsprechend ist ein Gemeinde-Versammlungsbau auch nicht mehr mit unmengen Zierrat, Gold, Stuck, Türmen usw. versehen. Auch freien Gemeinden ist die "Kathedrale" letztlich fremd.

Es liegt vielleicht auch daran, dass ich als Softwareentwickler und aktiver Web-Teilnehmer in der Open-Source Welt lebe und daher beim Begriff "Kathedrale" immer an das Essay von Eric S. Raymond zu den beiden Entwicklungsstilen denken muss. Sein Titel: "Die Kathedrale und der Basar".
In diesem Essay untersucht er die Entwicklungsstile kommerzieller Firmen im Vergleich zu Open-Source Projekten, und stellt auch deren soziale Implikation heraus.

Mit der Kathedrale bezeichnet er dabei den Entwicklungsstil von großen Firmen, wie z.B. IBM (früher) oder Microsoft. Eine Führungshierarchie mit dem Chefentwickler an oberster Stelle bestimmt wo es lang geht. Alle arbeiten unter ihrer Führung und strikten Anordnung an einem Produkt, dessen Aussehen letztlich von eben der Chefetage bestimmt wird. Und wenn das Produkt fertig ist, bekommt die Öffentlichkeit es zu sehen. Closed-Shop. Kathedrale.

Im Gegensatz dazu funktionieren Open-Source Projekte --so sagt er-- wie ein Basar. Die Programmquellen liegen offen. Jeder kann sie einsehen, frühzeitig ausprobieren, an der Entwicklung teilhaben. Jeder kann seine eigenen Ideen einbringen, weitere Impulse hinzutragen, Fehler und Mängel entdecken. Oder auch mit seinen Fähigkeiten (Design, Dokumentation,...) zum Projekt beitragen.

Das Projekt selbst erscheint mehr als ein Basar, der aus vielen bunten Ständen entsteht, an denen jeder seine eigenen Fähigkeiten feilbietet, und an denen andere sich genau das abholen können, was sie brauchen. Insbesondere: Der Basar hört nicht auf zu existieren, nur weil einige Stände abgebaut werden. Jeder Stand trägt gleichermaßen und auf unterschiedliche Weise zu dem Gesamtgeschehen bei.

Natürlich gibt es einen Aufseher, der darauf achtet, dass das gängige Marktrecht eingehalten wird. Aber es gibt nun einmal nicht den Chefarchitekten, der alleinig der Ideengeber, der geniale Künstler ist. Von Linus Torvalds (den Initiator von Linux) sagt er, dass er kein besonders genialer Designer sei, sondern dass seine Fähigkeit darin bestünde, Genialität in Designvorschlägen, die andere ihm machen, zu erkennen, und diese Leute in das Gesamtgeschehen zu integrieren.

Zitate:
"Mit ein bißchen Ermunterung werden Ihre Anwender Probleme diagnostizieren, entsprechende Änderungen vorschlagen und bei der Verbesserung des Codes in einer Weise mitwirken, die Sie alleine nie zustande bringen könnten."

"Die Durchschlagskraft dieser Erscheinung unterschätzt man leicht. Tatsächlich ist es so, daß so gut wie alle von uns in der Open Source-Welt drastisch unterschätzt haben, wie gut diese Kraft mit der Anzahl der Anwender und gegen die Systemkomplexität skaliert, bis Linus Torvalds uns darauf hingewiesen und es demonstriert hat."

"Aber nur ein Jahr später, als Linux bereits einige Breitenwirkung entfaltet hatte, war klar, daß dort etwas anderes und viel gesünderes vorging. Linus' Politik der für alle offenen Entwicklung war das exakte Gegenteil des Kathedralen-Stils. ... Linus behandelte Anwender als Mit-Entwickler, und das in der effektivsten nur möglichen Weise."


"Früh freigeben. Oft freigeben. Seinen Anwendern zuhören."



Wie wird nun dieser Vergleich auf die Gemeindesituation übertragen?

Nun, solange man mit "Bauherr" oder "Architekt" Jesus bezeichnet, scheint ja noch alles in Ordnung zu sein. Problematisch wird es aber, wenn der Kathedralen-Bau einer Gemeinde dadurch stattfindet, dass es einen menschlichen Architekten gibt, der seine eigene Bauzeichnung und -planung umgesetzt sehen möchte. Wenn alle Mitarbeiter sich zwar mit ihren Gaben einbringen sollen, aber die Form der Rosetten und Blöcke durch den Architekten bereits vorgegeben ist. Und solange wir in dem Bild der Kathedrale das Reich Gottes sehen, ist es ja auch noch ganz OK. Wenn aber die Kathedrale die Gemeinde ist, dann wird es schon schwieriger.
(Und häufig wird das miteinander verwechselt).

Gerade in heutiger postmoderner Zeit, die ja eben auch die Open-Source-Welt hervorgebracht hat (und umgekehrt!), ist die Frage, ob das Kathedralen-Bild noch adäquat ist, und ob man damit Menschen wirklich zur Mitarbeit bewegen kann.

Das Basar Bild, in dem jeder Teilnehmer sich mit seinen Fähigkeiten einbringen kann und in dem jeder Besucher einen Stand finden kann, der seine Bedürfnisse und Nöte anspricht, scheint mir viel interessanter als Perspektive zu sein. Hey, hier ist Basar. Sei willkommen und bau deinen Stand auf. Was hast du anzubieten? Dein Stand hat eine andere Farbe? Was macht das schon!

Folgende Fragen können Hinweise darauf geben, ob ein Kathedralen- oder ein Basar-Stil gepflegt wird:

  • Können Gottesdienstbesucher auch mehr oder weniger spontan einen Beitrag einbringen, auch wenn er nicht in das ursprüngliche Konzept des Gottesdienstleiters passte?
  • Gibt es in Gemeinde Foren gemeinschaftlicher Ideenfindung, Austausch von Gedanken, usw.?
  • Ist es möglich, für unterschiedliche Zielgruppen unterschiedliche Angebote zu machen, ohne dass es gleich in einen "Kulturschock" mündet?
  • Gibt es mehr als einen (akzeptierten!!) Stil der Gottesdienstgestaltung, Gruppengestaltung, Lebensgestaltung ...?

und so einige Fragen mehr.


Was mich am Kathedralen-Anekdotentext auch stört, ist folgendes:

Der Text führt leicht dazu, den dritten Steinmetz in den Vordergrund zu rücken: Wenigstens dieser hat eine Vision, ein wirkliches Ziel, sieht das Ganze, das Zukünftige. Und mit dieser Vision steht er als Vorbild da.

Interessant ist aber, dass ganz klar drei Personen an der Kathedrale arbeiten, aber nur einem Drittel ist tatsächlich als ZIEL klar und bewußt vor Augen, woran er arbeitet. Was tun die anderen?
Einer tut, was er muss (um Brot zu verdienen und zu überleben). Er haut Steine, ohne dass irgendjemand die Frage stellt, ob er andere Dinge nicht viel besser könnte. Dinge, die der Allgemeinheit vielleicht nützen würden, aber nicht der Kathedrale. Seine Bedürfnisse, vielleicht sogar Nöte, die ihn dazu bringen, diese Arbeit zu tun, werden nicht thematisiert.

Ein anderer tut, was er besonders gut kann. Was ihm Spaß macht. Aber letztlich ist es ihm egal, ob er eine Kathedrale baut, eine Fabrikhalle oder eine Gruft. Er benutzt den Kathedralenbau als Gelegenheit, und seine Leidenschaft wird zum Zweck benutzt. Offensichtlich hat ihm niemand klar zu machen versucht, WOZU er denn Steine haut. Offensichtlich bringt er seine Tätigkeit nicht mit seiner Gottesbeziehung in Verbindung. Die Frage scheint berechtigt, wie denn eigentlich seine Gottesbeziehung aussieht. Aber niemand scheint mit ihm darüber gesprochen zu haben. Eine Kathedrale -und somit auch seine momentane Arbeit- hat aber nunmal mit Gott zu tun, und mit Gottesbeziehung.

Wir sehen an diesen Beiden: Den Bauherren war der Bau der Kathedrale wichtiger, als die Menschen, die daran mitbauen.

Moderne Betrachtung ist aber: Gemeinde wird aus den Teilnehmern gebaut. Nicht aus Gebäude. An vielen anderen Orten ist schon die Tendenz zeitgenössischer Gemeinden kritisiert worden, sich auf Gebäude zu fokussieren, und nicht erst seit Kurzem denkt man über Alternativen nach.
Gemeinde ist die Summe der Menschen an einem Ort.

Wichtiger als der Kathedralen-Bau, ist der Gemeindebau. Und womöglich wird durch einen Basar viel mehr zum Gemeindebau beigetragen, als man vorhersehen kann. Wie im Open-Source Bereich eben.

Viele Gedanken, viele Aspekte ... Der Text ist hier nicht zu Ende. Er fängt erst an ...

2009-08-28

Spatial Turn

http://de.wikipedia.org/wiki/Spatial_turn

Interessant dieser Artikel, der auch irgendwie mit
der Postmoderne zu tun hat.

In der praktischen Informatik (Programmierung also)
haben wir oft mit Graphenproblemen zu tun, weswegen
das Denken in Graphen zu einem wesentlichen Teil
unserer Arbeit gehört.
http://de.wikipedia.org/wiki/Graphentheorie

So programmieren wir objektorientiert,
in dem wir Beziehungen zwischen Klassen formulieren
und in Programmcode umsetzen (Ein Verein _hat_ n Mitglieder,
ein Mitglied _ist eine_ Person, ein Mitglied _hat_ eine Adresse
usw.),
http://de.wikipedia.org/wiki/UML

oder Abhängigkeiten zwischen Komponenten beschreiben:

Microsoft Word --braucht--> MS Windows --läuft auf--> Intel PCs.

Wir organisieren Abteilungshierachien in Form von Graphen,
notieren auch unsere Ideen immer mehr in Graphen-Form:
Mind-Maps oder neuerdings sogar Concept-Maps.

Seit längerem bekannt ist auch in der Soziologie die
Anwendung eines Graphensystems zur Darstellung von
Beziehungen zwischen Gruppenmitgliedern, das Soziogramm.
http://de.wikipedia.org/wiki/Soziogramm

Somit überschneidet sich hier einiges:
Systeme werden mit Graphen dokumentiert, analysiert,
verstanden.

Interessant am Spatial Turn ist nun, dass sich auf
virtueller Ebene soziale "Räume" (also Graphen) auftun,
die physikalische Räume (also Orte, wie z.B. Städte oder
Stadtteile) überbrücken bzw. diese durchdringen.

Gerade auch das Internet mit seinen Social Networks
und der Möglichkeit der Vernetzung über weite Strecken
hat eine Transzendenz des physikalischen Raumes/Ortes
zu einem virtuellen Raum ermöglicht.
So kann es sein, dass örtlich nebeneinander existierende
Individuen in Nachbarschaften sich sozial in völlig unterschiedlichen
Räumen bewegen.


Interessant zum Verständnis von Problemen in stark
heterogenen Gruppen, wie sie z.B. auch christliche
Gemeinden in Ballungszentren oft sind, ist also
eine bewusste Betrachtung der verschiedenen "Räume",
die sich durch die sozialen Beziehungen zwischen
verschiedenen Mitgliedern ergeben.

Sind diese Räume erst einmal bekannt, können sie
auf ihre Kommunikation hin untersucht werden.
Und so können Brücken zwischen diesen Räumen in Form
von kommunikativen Hilfskonstrukten aufgebaut werden,
die eine Transformation von Gedanken aus Raum A in Raum B
ermöglichen. (Man nennt das landläufig "übersetzen").

Sowohl die Übersetzung als auch die Erläuterung sind
wesentliche Voraussetzung für eine Inter-Spatiale,
also raum-übergreifende, Kommunikation.

2009-04-29

Morgengedanke: Vom Pharisäertum ...

Pharisäer, zur Zeit des Neuen Testamentes der Name einer jüdischen Richtung, einer ..hm.. jüdischen Sekte, ist für Christen der heutigen Tage zu einem Schimpfwort geworden.

Was drückt es aus, jemanden als "Pharisäer" zu bezeichnen?

Zunächst einmal werden uns im Neuen Testament Pharisäer als Menschen vermittelt, die auf eine falsche Weise Zugang zu Gott finden wollen. Sie sind ernsthaft um Gott bemüht, aber sie versuchen Gott auf einem falschen Weg zu erreichen. Den Weg der Leistung, der Perfektion, der Selbstdisziplin, der absoluten Fehlervermeidung.

Dies ist im Endeffekt den Weg der Strenge und der Enge, der Gesetzlichkeit. Durch immer neue Regeln versuchen sie, unter allen Umständen auch nur die Möglichkeit eines ungewollt verursachten Fehlers auszuschließen. Sie versuchen, jeglichen Flecken zu tilgen. Sie sterilisiern.
Und letzten Endes schaffen sie dadurch eine unmenschliche, lebensfeindliche Umgebung. Das Sabbathgebot, eingerichtet zur Entlastung, wird verzerrt, wird zu einer nur schwer tragbaren Last. (Matth.12,1-6)
Die Suche nach Gott, das Handeln im Glauben im Alltag wird ersetzt durch Exegesefragen und Rechtsstreitigkeiten. Die Frage nach exakter Auslegung des Wortlautes wird wichtiger als die Frage nach Intention. Die Frage nach korrekter Form wird wichtiger als die Frage nach Inhalt.

Schließlich mündet dies in einen sehr ungesunden Zustand: Der Weg der Leistung und der Strenge mündet darin, sich selbst zu rechtfertigen. Sich über den anderen zu erheben. Seine eigene Leistung dazu zu benutzen, den anderen zu erniedrigen und sich selbst über ihn zu setzen. "Herr hab dank, dass ich nicht so bin wie jener dort". (Luk.18,9-12)
Alfred Adler, Psychotherapeut und Schüler Freuds, beschreibt ein solches Verhalten in der von ihm begründeten Individualpsychologie.
Die Wahrnehmung eigener Minderwertigkeitsgefühle führt zu einem Verhalten der Kompensation und letzlich der Überkompensation. Eigene Mängel und Schwächen werden wahrgenommen, aber oft nur vorbewußt, denn sie schmerzen. Können bei sich selbst nicht zugelassen werden.
Daher werden sie nach Außen projiziert. Beim Anderen verstärkt und überzeichnet wahrgenommen.
Diese Projektion und der Versuch diese Schwächen zu kontrollieren und in den Griff zu bekommen führt jedoch dazu, den Mangel beim Anderen zu bekämpfen, anstatt bei sich selbst. (Mt.7,3)

So wird Pharisäertum aber letzten Endes auch ein Phänomen von Machtstruktur. Die Pharisäer sind eine herrschende Schicht. Sie haben die Macht. Sie setzten sich durch. Sie sitzen am Hebel. Sie bestimmen, was recht ist und was nicht. Und sie schaffen Unbequemes, was ihre Macht bedrohen würde, aus dem Wege: "Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbrächten." (Mk. 3,6)

Jesus hat mit den Pharisäern nicht "aufräumen" können. Auch in späterer Zeit bildeten sich in der Kirche Strukturen mit pharisäerischen Zügen heraus. War dies eine Begleiterscheinung der Ausbildung hierarchischer Strukturen? Quasi ein Virus, der diese Strukturen als Lebensraum ausfinding machte und sie befiel? Oder war es umgekehrt die pharisäerische Tendenz in bestimmten Kreisen der jungen Kirche, die genau die Bildung hierarchischer Machtstruktur katalysierte, forcierte, hervorbrachte?

Es geht weit über diesen Artikel hinaus und bleibt Aufgabe der Soziologie, den Zusammenhang zwischen hierarchischen Ordnungen in Gruppen, Machtstrukturen und Ausnutzung derselben zu erforschen. Und ebenfalls festzustellen, wie die Ausnutzung und Verzerrung von ursprünglich als sinnvoll eingesetzen Leitungsordnungen verhindert werden kann.

Zurück zum Thema:
Ein Verhalten heutzutage als Pharisäertum zu bezeichnen, ist eine ziemlich heftige Geschichte. Harte Kritik. Der Inbegriff alles Schlechten, was Glaube hervorbringen kann. Aber -und das ist die Kehrseite- es ist eben auch geäußerte Kritik. Hinweis auf die Wahrnehmung von Mißständen. Hinweis auf die Wahrnehmung von Fehlverhalten.

Wie geht man aber nun mit Kritik um? Da gibt es prinzipiell zwei Verhaltensweisen:

a) Man nimmt diese Kritik, zieht sich zurück und überlegt, ob und inwieweit an dieser Kritik etwas dran ist. Man denkt darüber nach. Kurz: Man reflektiert.

b) Man fühlt sich angegriffen. Man empört sich. Und geht in den Gegenangriff über.

Für das Verhalten a) ist als Voraussetzung notwendig, dass man bereits ein stabiles Selbstbild hat. Ein Selbstbild, das durch Kritik nicht sofort ins Wanken gerät. Ein Selbstbild, das Fehler durchaus erkennen und zulassen kann, weil Vertrauen in andere Teile des Selbst weiterhin tragen.
Das Verhalten a) führt im konkreten Fall nun dazu, dass man sich ernsthaft fragt: "Bin ich ein Pharisäer"?

Wodurch aber wird Verhalten b) ausgelöst?
Die Kritik und das Gefühl des Angegriffen-werdens führt dazu, dass das eigene Selbstbild in Gefahr gerät. Dies gilt es aber, wie oben erwähnt, unter allen Umständen zu vermeiden. Das darf nicht sein! Und dies ist die Basis der Empörung. Dies löst die Abwehrhaltung aus, und den Gegenangriff.

Das, was mit dem Begriff "Pharisäer" kritisiert wird, betrifft aber nun sehr stark die Persönlichkeitsstruktur, die im Verhalten b) beschrieben wird.

Somit könnte man sehr spitz auf den Punkt gebracht sagen: Wer sich hinsetzt, reflektiert und sich selbst fragt: "Bin ich ein Pharisäer?" -> der ist keiner.

Der, der wirklich ein Pharisäer ist, wird sich umgekehrt nie hinsetzen und über diese Kritik nachsinnen.

Somit ist der Versuch, bei jemandem Kritik anzubringen, indem man ihn auf sein Pharisäertum hinweist, von der Grundstruktur her schon zum Scheitern verurteilt.

Ein weiterer Gedanke:
Der Mensch hat -so die moderne Gehinrforschung- die Tendenz, Intentionalität und Selbstbezug in ein Geschehen hineinzuinterpretieren. Auch wenn es keinen objektiven Hinweis darauf gibt, erdichtet sich das menschliche Individuum Absichten. Phantasiert Zusammenhänge. Empfindet Ereignisse als auf sich selbst bezogen, für sich bedeutsam.
("Bestimmt haben die gerade über mich geredet ...").

Gerade bei Selbstwertproblemen ist diese Tendenz zu beobachten und verstärkt das Grundgefühl des Angegriffen-werdens. Die Umwelt wird sehr schnell als feindlich wahrgenommen, Mißtrauen wird zur dominierenden Einstellung.

Fakten können nicht mehr sachlich aufgenommen werden. Auch wenn es keine sachliche Grundlage dafür gibt, steht die Frage: "Bin ich gemeint?" sofort im Raum.

Leser, die den Autor nicht kennen, können Artikel wie diesen hier sicher relativ wertfrei lesen und darüber nachdenken.
Aber ich könnte wetten, dass manche unter den Lesern, die mit dem Autor eines solchen Artikels bekannt sind, ihn nicht lesen können, ohne sich sofort zu fragen: "Meint er mich?" - "Warum hat er diesen Artikel geschrieben?, Will er mich damit etwa kritisieren?" - "Bezeichnet er MICH als Pharisäer?"

Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, dass dieser Artikel auf einer ganz anderen Basis zustandegekommen ist und ich dabei NICHT an DICH gedacht habe? ;-)

2009-04-15

Kindern Glauben vermitteln durch strategisches Programm?

Folgendes war im letzten Newsletter Willownews vom April 2009 als Werbung zu lesen:
Mark Holmen: Den Glauben zu Hause leben

Eltern befähigen, den Glauben mit Kindern zu leben

Dieses Buch ist Teil der Bewegung GLAUBEN ZU HAUSE, die
Gemeinden darin unterstützt, einen integrativen und
umfassenden Ansatz der Familienarbeit zu entwickeln. Dabei
geht es darum, Familien zu unterstützen, dass der Glaube zu
Hause Gestalt gewinnen kann. Glaubensprägung geschieht
wesentlich mehr zuhause, als durch die kirchliche
Kinderarbeit. Daher muss die Gemeinde für Familien zum
Partner werden, der sie darin unterstützt, Wege zu finden,
wie der Glaube zu Hause gestaltet werden kann.

Mit diesem Ziel haben Mark Holmen und David Teixeira ein
umfangreiches Arbeitsbuch zusammengestellt, das die Vision,
Strategie und praktische Umsetzung einer integrativen
Familienarbeit in der Gemeinde beschreibt. Hinzu kommen 13
kopierbare Einheiten, wie Eltern mit ihren Kindern den
Glauben in der eigenen Familie praktisch leben können. Die im
Buch enthaltende CD-ROM enthält umfangreiche
Arbeitsmaterialien für die Eltern-Kind-Impulse sowie
PowerPoint-Folien für die Vorstellung des Konzepts GLAUBEN ZU
HAUSE in der Gemeinde.
Während der erste Absatz ja noch recht positiv gelesen werden kann, stieß mir der zweite Absatz doch ziemlich auf.

"Vision, Strategie, integrative Familienarbeit..."

Für mich blieb beim Lesen ein fader Nachgeschmack, und die Frage: Ist es das? Definieren wir so unseren Glauben, unser Christsein?
Das Leben persönlicher Gottesbeziehung als Management-Auftrag?
Familienleben per Arbeitsmaterialien?

Ich frage mich, inwiefern sind wir noch (oder vielmehr: wieder!) in der Lage, unseren Glauben und unser Christsein aus der Perspektive der Beziehung, der Dynamik der Begegnung und der simplen Vermittlung von Liebe zu gestalten und vor allem zu vermitteln?

Inwiefern wird andersherum selbst der privateste Bereich durch christlich vorkonzeptionierte und vorkonfektionierte How-Tos durchdrungen?
Werden Situationen und Konstellationen, die ein Aufeinander-Hören und ein gegenseitiges in Achtung Wahrnehmen und Aufeinander-Eingehen verlangen, in ein vorgedachtes und durchdesigntes System-Management verwandelt?

Inwieweit wird Leben in seiner Spontaneität und Flexibilität durch Programmierung ersetzt?

An vielen Stellen klagen die Menschen, gerade die Berufstätigen, heutzutage über Überlastung, Stress, zu wenig zur Ruhe kommen.
Termine und Pläne werden oft als von Außen bestimmt und damit als Druck und Zwang erlebt. Wir werden getrieben von Anforderungen, Zielsetzungen, Kalendern.

Die Gesellschaft produziert auf diese Weise aber ihre eigenen Opfer. Verlierer werden einkalkuliert.
Nur der Stärkere (im Sinne von: Leistungsstärkere, Flexiblere, Opferbereitere) überlebt in diesem Szenario, Familien und andere Beziehungen bleiben auf der Strecke.

Anstatt nun diesem ungesunden Gesellschaftstrend durch Schaffung einer Alternative und eines Freiraumes in Gemeinde zu begegnen, anstatt eine Alternativkultur des Miteinanders zu begründen und vorzuleben, setzen wir diesen Trend, den auch wir als Christen im Beruf zum Teil leidvoll erleben, auch noch in unseren Gemeinden fort:

Aus Gemeinschaft wird Gemeinde-Arbeit. Aus Begegnung mit Jugendlichen wird Jugend-Arbeit.(*)
Und nun introjizieren wir diesen Trend auch noch in die privateste Struktur, die Familien, hinein.
Aus einem Zusammen-Leben von Menschen wird Familien-Arbeit.

Aus einer Gemeinschaft wird plötzlich ein durch Zielvorgaben bestimmtes, durch Programme gesteuertes Zweck-Unternehmen.

Fragt jemand die Kinder und Heranwachsenden eigentlich, ob sie von ihren Eltern als Ziel eines elterlichen Arbeitsprogrammes gesehen werden wollen?
Ob sie den Glauben ihrer Eltern als Kapitel 7 der familiären Christsein-Strategie vermittelt bekommen möchten?
Ob sie elterliche Liebe als Teil deren Glaubens erfahren wollen, weil es gemäß Impuls-Material gerade dran ist?


Anstatt sich mit "umfangreichen" Arbeitsmaterialien einzudecken und immer wieder zu versuchen, Glauben und Gemeinde durch vorgekaute Programme, Konzepte und Schemata in den Griff zu bekommen, wird es Zeit, dass Christen endlich wieder lernen, die Augen für die Menschen und die Gesellschaft um sie herum aufzumachen.
Bewusst auch mal über längere Zeit genau hinzuschauen und hinzuhören, und über das Gesehene und Gehörte im Dialog mit ihrem Herrn intensiv nachzudenken.
Wertfrei, offen, ohne Zweckorientierung.

Menschen, die nach Gott suchen (ob Erwachsene oder Kinder in Familien) brauchen weniger Programme und Arbeitsbücher als mehr persönliche Begegnungen mit Menschen, die ihnen als Gesprächspartner und Vorbilder dienen können. Die ihnen offen und wertfrei begegnen und im Dialog zur Verfügung stehen.

Und da fängt es schon an: Auch für die Suche nach Vorbildern brauchen wir ... Vorbilder.
Wie wächst man eigentlich im Glauben?
Wie findet man Menschen, zu denen wir genug Vertrauen entwickeln können, denen wir uns anvertrauen können, und die für uns zu persönlichen Mentoren werden können?
Wer ist Vorbild darin, Vorbilder zu suchen und zu finden?

Wenn die Gestaltung christlichen Familienlebens eine offene Frage ist (offensichtlich, da das Arbeitsbuch ja darauf eine Antwort geben möchte), und wenn wir aus der Seelsorge wissen, dass persönliches Gespräch und persönliche
Begegnung wichtig sind, um auf die individuellen Bedürfnisse und den Charakter der jeweiligen Menschen einzugehen (offensichtlich, da wir nicht die Seelsorgearbeit einfach durch ein breiteres Büchertisch-Angebot ersetzen), dann ist ein solches Arbeitsprogramm-Buch ein christlicher Stilbruch. Dann ist es in der Gesamtschau christlichen Soziallebens kontraproduktiv, mit solchen Materialien aufzufahren.


Die Frage, wie wir postmodernen Menschen denn Glauben vermitteln können, wird an allen möglichen Orten gestellt, und Antworten darauf klingen oft ähnlich: Durch persönliche Beziehung, durch lehrreiche Geschichten (Narrativium).
Auch z.B. das Thema Glaube, Zweifel und Gemeinde wird daher immer mehr in Romanform statt durch Sachbücher vermittelt.
Durch Erzählungen statt durch strukturierte Programme und Konzepte.


Unser Leben als Christen in Gemeinden soll vom Glauben erzählen, nicht unsere Lehrbücher und Schulungsprogramme.
Christus hat den Jüngern nicht eine Menge von Schriftrollen übergeben, sondern hat sie eingeladen, ihn auf der Reise seines Lebens zu begleiten und ihn quasi "live" zu erleben.

Das sollten wir berücksichtigen, gerade in der aktuellen Zeitgeist-Entwicklung. Sind wir dazu bereit? Oder bleiben wir in der Programmatik und Versachlichung/Funktionalisierung der Moderne haften?



(*) Von "Kinder-Arbeit" als Begriff mal ganz zu schweigen.




2009-02-18

Morgengedanke: "Ihre repräsentative Immobilie"

Hallo, mein Name ist Peter Makler und ich vermittle Immobilien an Privat- und Geschäftskunden.

Leider geht mein Geschäft nicht sehr gut. Irgendwie flau. Oder um ehrlich zu sein: Ich stehe vor dem Ruin. Und das, wo ich eigentlich nicht mehr lange bis zur Rente habe. Schlimm, sowas.

Neulich, da hab ich ja gedacht, ich würde wieder Aufwind bekommen. Da kam nämlich ein Unternehmer zu mir, Eigentümer einer jungen, aufstrebenden Computerfirma. Er sagte mir, er hätte vor einigen Jahren mit ein paar Leuten angefangen, aber sein Unternehmen wäre in kurzer Zeit dermaßen angewachsen, dass seine Officelocation aus allen Nähten platze. Außerdem sei das ein nicht repräsentativer Altbau. Nichts, womit man den Geschäftskunden die Innovativität seiner boomenden IT-centered Company deutlich machen könne. Und da er in der Acquisitions-Phase zu einigen großen Joint-Venture Projekten mit Resellern sei, bräuchte er angemessene Räume für Meetings und Präsentationen. Außerdem sollen die Arbeitsplätze seiner Angestellten flexibler auf die Economic Changes angepasst werden können.
Patchbare Network-Installationen und Infrastruktur, die auch zum Chillen und Relaxen einlädt, sei in seinem kreativen Business pflicht.

Ok, ich hab nicht alles verstanden, aber das Anliegen war klar: Er brauchte ein neues Bürogebäude!

Zunächst mal trafen wir uns in seinem derzeitigen Unternehmens-Domizil, und er hatte recht: In diesem Gebäude konnte man kein modernes Unternehmen der elektronischen Datenverarbeitung ansiedeln. Ein Altbau aus der Jahrhundertwende, an dem schon Teile des Stucks abbröckelten. Überalterter Dachbau, angewitterte Holzrahmenfenster, ohne Farbe.

Und da hatte ich genau das Richtige für ihn ... dachte ich. Ein kleines Prachtstück von einem Gebäude. Ich lud ihn also zu einem Besichtigungstermin ein, und wir sahen es uns an: Zentral gelegen in der Mitte des Altstadt-Zentrums, renovierter Verwaltungsbau, Baujahr 1905. Stuckfassade gut erhalten und erneuert, in pastell-blau gehalten, kürzlich erst gestrichen. Alle Fenster runderneuerte und weiß gestrichene Holzrahmen mit dekorativen Mittelkreuzen. Zentralheizung völlig saniert, breites, repräsentatives Treppenhaus. Gute Verkehrsanbindung.

Nun ... er war nicht begeistert. Er sagte, er bräuchte ein modernes Gebäude. Eines, dass den technologischen Fortschritt seiner Branche darstellt. Etwas mit Glas und Chrom. Mit mehr Licht im Inneren. Ein großer Eingangsbereich, moderne Lifte, alle Formen der Telekommunikation bereits in jedem Raum verlegt. Und überhaupt: Die Farbe ....

Natürlich!! Jetzt hatte ich ihn verstanden. Nun, pastell-blau passt ja auch wirklich nicht zu einer Rechner-Firma.

Also zeigte ich ihm das nächste Gebäude. Ein wahrer Palast der Moderne. Gegenwärtig war es noch ein Hotel, aber das würde in Kürze das Gebäude verlassen.
Der Eingang war mit einem Glasvorbau auf Stahlsäulen versehen, moderne Pflasterarbeiten in der Zufahrt. Alle Fenster modernste Thermopen-Doppelverglasung im Alurahmen. Jedes Zimmer ausgestattet mit Telefon und sogar Computeranschluss! Die Lifte waren erst vor drei Jahren erneuert worden. Der Eingangsbereich enthielt eine Buchenholz-Rezeption. Der Wintergarten ließ viel Licht ein, und eignete sich hervorragend als großer Besprechungsraum.
Die Fassade in modernem dunkelrot gehalten, Fensterrahmen und Sockel in leichtem Grau hervorgehoben.

Das war ja wohl ideal. Ein wirklich rundum zeitgemäßes Gebäude für ein modernes Unternehmen.

Aber komisch. Irgendwie störte er sich daran. Im gefiel die Stuckfassade nicht. Und das Baujahr 1922 sei ja auch nicht gerade etwas, was sein Unternehmen repräsentieren würde. (Verstehe ich nicht: Sehr solide, so sollten sich Unternehmen doch darstellen?).

Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Und das verstehe ich wirklich nicht. Habe ich denn nicht alles getan, um auf seine Wünsche einzugehen?