2011-05-26

Weisheit ... ?!

Auf dem Laut-gedacht-Blog stellt M. die Frage, was denn genau geistliches Wachstum ist. Diese Frage hat bei mir einen eigenen Gedanken wieder angetriggert, der mir vor einer Weile schonmal durch den Kopf schoss. Nämlich:

Wie steht es heute eigentlich um den Begriff "Weisheit"?

Um darüber zu sprechen, muss man natürlich erst einmal den Gegenstand der Debatte definieren. Und hier kommt uns natürlich wieder Wikipedia zu Hilfe:
Als Weisheit wird eine transkulturell-zeitlose, universal-menschliche, reale oder ideale, entweder als reifungsbedingt erwerbbar oder aber als göttlich verliehen gedachte exzeptionelle Fähigkeit bezeichnet. Sie zeichnet sich durch eine ungewöhnlich tiefe Einsicht in das Wirkungsgefüge von Natur, Leben und Gesellschaft, besonderes Wissen, eine herausragende ethisch-moralische Grundhaltung und das damit verbundene Handlungsvermögen aus.
Weisheit ist auch explizit ein wichtiger Aspekt in der Bibel, z.B. archetypisch präsentiert durch die Figur des König Salomo. Auch werden einige Schriften der Bibel als sog. Weisheitsliteratur bezeichnet, da ihr Inhalt als die schriftliche Niederlegung von eben diesen tiefen Einsichten und/oder den daraus folgenden Handlungsanweisungen betrachtet wird. (vgl. dazu auch wieder Wikipedia).

Aus unserem heutigen Alltag ist der Begriff der Weisheit fast völlig verschwunden, und findet sich, wenn überhaupt, nur noch in fantastischer Literatur. Das allgemeine Streben geht in Richtung Wissenserwerb (Information), wissenschaftliche Beobachtung und Erkenntnis, den Ausbau kognitiver und kommunikativer Fertigkeiten als Mittel zum Zweck (sog. "Soft-Skills"), planerische und steuernde Fähigkeiten.

Weisheit jedoch, die neben all dem auch einen ethisch-moralischen Aspekt enthält, und die durch eher kontemplative Betrachtung der Welt und Meditation[1] über die beobachteten Phänomene zustande kommt, hat keinen Raum mehr.

Weisheit wurde früher unter anderem mit Lebenserfahrung in Verbindung gebracht, mit dem Alter und mit grauen Haaren. Weisheit bedeutete, dass der Erfahrene oder mit Erkenntnis Ausgestattete einen Rat gab, eine Handlung vollzog oder Ähnliches, die einem Jüngeren oder Unerfahreneren Hilfestellung und Leitung geben konnte.
Zum Weisen ging man, um sich einen Rat zu holen. Dem Weisen hörte man zu, denn was er sagte, hatte Bedeutung.

Heutzutage jedoch werden Alter und graue Haare eher mit anderen Aspekten in Verbindung gebracht: Senilität, überholter Tradition, Fixierung auf Vergangenes, Unverständnis für den modernen Lebensstil und daher Irrelevanz für diesen.

Man kann dies natürlich wieder mit der ungestümen Rebellion der Jugend, die nicht auf das Alter hören will, verargumentieren. Aber man kann es auch anders herum betrachten. Wenn die ältere Generation von vielen Dingen, mit denen moderne Menschen aufwachsen, überfordert sind (sowohl im geistigen Verständnis als auch in der moralischen Einschätzung), wie sollen sie da relevanten Rat geben können?
Jedenfalls nicht einfach deshalb, weil sie "alt" und somit "erfahren" sind.

Weisheit erfordert mehr. Sie erfordert, dass man "nach ihr strebt". Sich mit ihr bzw. ihren Inhalten auseinandersetzt. Die Welt aus einer gewissen Perspektive bewusst wahrnimmt und sich darüber Gedanken macht.

Aus religiöser Sicht, aus christlicher Sicht, ist Weisheit aber auch ein göttliches Geschenk. Eine Gabe. Etwas, das mit dem Glauben und mit Gott in Verbindung steht. Weisheit erfolgt aber auch aus dem Glauben, indem der Bekehrte lernt, die Welt aus Gottes Sicht zu betrachten.

Wikipedia:
Andererseits wird Weisheit auch mit persönlichen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht: „Der Weg des Narren erscheint in seinen eigenen Augen recht, der Weise aber hört auf Rat.“ (Sprüche 12,15) Die Bibel enthält auch direkte Handlungsanweisungen zur Erlangung von Weisheit: „Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege an und werde weise!“ (Sprüche 6,6)

Aber auch aus der Kirche haben wir den Aspekt der Weisheit eher verdrängt. Das Wort wird auch hier eher selten in den Mund genommen. Von der Kanzel werden keine Weisheiten vermittelt, sondern theologische Richtigkeiten. Texte werden genommen, seziert, analysiert, positioniert, interpretiert. Die Vermittlung der Weisheit, oder besser: die Anleitung des Hörers hin zur Weisheit zu kommen, kommt zu kurz.

Das scheint mir ein Grund zu sein, warum unsere Gottesdienste und Predigten heute so flach wirken, warum sie so wenig Auswirkung auf den Alltag haben. Wir werden nicht an die Hand genommen, um die Welt aus Gottes Sicht zu betrachten, und dadurch weise zu werden. Es fehlt die Anleitung, wie wir das, was wir im Rest der Woche auf uns einwirken sehen, mit Weisheit betrachten können, um daran zu wachsen.

Auch hier wieder mein Punkt: Ist die Kanzel-Predigt überhaupt der richtige Weg, das zu tun? Hat Vermittlung von Weisheit nicht auch etwas damit zu tun, dass man jemanden auf einem Weg begleitet?
In Israel war es damals üblich, dass Schüler ihren Lehrer auf Wanderungen begleiteten, und erlebten, wie dieser die unterschiedlichen Situationen des Lebens, mit denen sie konfrontiert wurden, behandelte. Wie er über sie dachte, was er darüber sagte, und welche Handlungen er daraus ableitete.
Und: Die Lehrer waren dazu da, Weisheit und Erkenntnis zu vermitteln, nicht lediglich Wissen und Fertigkeiten.

Leider glauben wir, anderen Menschen, und insbesondere unseren Kindern und Jugendlichen, Weisheit und Glauben mit dem Textbuch und der Gruppendiskussion vermitteln zu können.

Aber Weisheit hat nicht nur etwas mit dem Predigt- und Lehr-Stil zu tun. Weisheit ist ebenso ein wesentlicher Aspekt der christlichen Seelsorge. Hier ist der Punkt, wo es wirklich um die einzelne Person und ihren Lebensstil geht. Hier ist der Punkt, wo wirklich gezielt ihre Fragen und ihre Probleme zum Thema werden.
Hier ist der Punkt, wo viel für die Person Relevantes vermittelt werden kann. Wenn in dieser Situation Weisheit beteiligt ist, so führt sie am unmittelbarsten zu Handlungsanweisung, zu Veränderung.

Daher ist Seelsorge -in jeder möglichen Form- ein so wichtiger Aspekt von Gemeinde, und daher ist es tragisch, wenn dieser Aspekt im Gemeindeleben zu kurz kommt und zu wenig thematisiert wird.


Meine Fragen lauten daher am Ende:
Wo kann man "Weisheit" in Kirche erleben?
Wie kann "Weisheit" wieder ein Thema in Kirche werden?
Wie wollen wir künftig "Weisheit" vermitteln?


[1] "Meditation" ist hier nicht im Sinne einer religiösen Übung gemeint, sondern eher zu verstehen als das tiefe Nachdenken über Gesehenes und Gehörtes, das Zeit braucht und sich diese Zeit auch nimmt.

2011-03-24

Gemeinde vs. Gemeinde vs. Gemeinde

Auf dem Laut-Gedacht-Blog hat M. einen Post zum Thema Gemeinde veröffentlicht, der mich mal wieder zum Nachdenken gebracht hat.

Zitat:
Von "der Gemeinde" erwarte ich eigentlich recht wenig. Wörter wie Stress, schwerfällig, leblos, Frust kommen mir in den Sinn. Von den Menschen die ich dort begegne halte ich wiederum sehr viel und traue ihnen auch sehr viel zu wenn es mal hart auf hart kommen sollte.
und:
Das Gefühl, dass es eben nicht hart auf hart kommt, weil man sich mehr mit Organisation als mit einem lebendigen Gott beschäftigt und Gemeinde gar nicht zeigen kann, dass sie Gemeinde ist.

Zuneigung zu den Menschen und werdene Abneigung zur Gruppe sind eine verwirrende Sache.
Gerade die Verwirrung des letzten Satzes kann ich durchaus nachempfinden.

In einem Kommentar schreibt er:
Meine Generation ist alt genug, um sich so zu organisieren, dass sie die Gemeinde als Treffpunkt nicht mehr nötig hat und hat sich für andere Orte entschieden.
Das macht mich nicht gerade glücklich.
Insgesamt bringt mich das wieder zu der Überlegung: Was ist eigentlich "Gemeinde" ?

Der Begriff an sich ist nicht eindeutig, und auch in seinem Post vermischen sich Aspekte, die ich gerne begrifflich getrennt haben möchte, um über die aktuelle und zukünftige Situation überhaupt sprechen zu können.

Also versuche ich, das mal etwas auseinanderzufieseln und begrifflich abzugrenzen:

  • Zum einen haben wir da also die Gemeinde als eine Menge von Menschen. In dieser Gruppe bildet sich natürlich das übliche Beziehungsgeflecht aus, wie es in jeder genügend großen Gruppe auftritt. Hier entwickeln sich Freundschaften, aufgrund der spirituellen Ausrichtung und der Tiefe der Gemeinsamkeit und des Austausches (Hauskreis, Seelsorge) eben auch recht tiefe Freundschaften. Ich nenne das: die Beziehungsgemeinde.
  • Dann haben wir eben die Gemeinde als Organisation. Hier werden Strukturen gebildet, Gruppen geordnet, geleitet, organisiert und verwaltet. Hier werden allgemeine Entscheidungen getroffen, Güter beschafft und verwaltet, eine Corporate Identity aufgebaut. Ohne polemisch sein zu wollen, belege ich diesen Aspekt mit dem Begriff Gemeindeverein, denn strukturell ist er genau das.
  • Als drittes haben wir dann noch den zentralen Ort der Zusammenkunft, der Gruppengestaltung, der örtlichen Identifikation: das Gemeindezentrum.
Das sind die drei Existenz-Aspekte der Gemeinde. Über diesen steht nun als übergreifendes Element, quasi als einschließende und definierende Klammer, der Sinn und Zweck dieser Struktur. Ich nenne das den Transzendenz-Aspekt.

Diese drei Existenz-Aspekte stehen nun in einem Verhältnis zueinander, und die Spannung die sich ergibt, liegt meines Erachtens in eben diesen Verhältnissen begründet.

Wenn beispielsweise der Gemeindeverein viel Energie damit verbraucht, sich selbst und das Gemeindezentrum zu verwalten, so kann es passieren, dass er sich immer mehr vom Transzendenz-Aspekt entfernt. Das heißt, dass der Sinn und das Ziel des Ganzen verloren geht.

Nebenbemerkung: Folgendes ist übrigens ein Punkt, den ich auch in Unternehmen beobachte. Wenn es an der eigentlichen Zielausrichtung und an gemeinsamer Synergie zu einem bestimmten Zweck hin hapert, dann ist die Tendenz, Aktionen und Energien in Nebenschauplätze zu investieren. Wenn die grundsätzlichen Probleme immer unüberwindbarer erscheinen, so neigt man vermehrt dazu, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Ganz einfach deshalb, weil man nicht untätig sein will, geht man die anderen Dinge an, die man bewältigen kann.

Leider führt diese Haltung aber auch leicht dazu, dass man Scheuklappen für die großen Probleme entwickelt, und Lösungen für diese ausblendet. Denn diese würden einen tiefen Eingriff in die Struktur bedingen, und würde aus der Sicherheit des Gewohnten und des Beherrschbaren herausreißen.

Drücken wir hier mal für einen Moment auf die Pausentaste der sozio-psychologischen Gedanken und kehren zu den konkreten Aussagen im verlinkten Post zurück. Und gehen wir hier zudem das Thema mal von hinten an:

Frage:
Wieso ist es eigentlich so ein Unglück, wenn die Jugendlichen sich an anderen Orten organisieren, als im Gemeindezentrum?
Oder die Frage mal anders gestellt: Wieso ist es notwendig, dass sich Jugendliche mit christlichem Glaubenshintergrund im Gemeindezentrum treffen?

Meine Ansicht dazu ist ja: Es ist nicht notwendig. "Gemeindezentrum" ist ein Phänomen einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Umfelds. Nicht zu jeder Zeit und nicht an jedem Ort findet Gemeinde in Form eines Gemeindezentrums ihre Struktur. Hauskreise, Untergrundgemeinden, sog. Dritte-Orte, alles das sind alternative Möglichkeiten, wie sich christliche Glaubende organisieren können.
Missionarisch ist die (zumindest ausschließliche) Gemeindezentrum-Kultur schon gar nicht.
Die Kontroverse zwischen Komm-Kultur und Geh-Kultur spielt sich auf diesem Terrain ab.
Und mal ehrlich: Die besten Gespräche habe ich fast gar nicht im Gemeindezentrum gehabt. Diese ergaben sich immer spontan an anderen Orten. Der "frömmste" davon sicher der Hauskreis, aber eben vielfach auf Freizeiten, auf Parties, in Kneipen, am Arbeitsplatz. Dort, wo man ganz natürlich und ohne spirituellen Rahmen zwanglos zusammenkommt. Wo die Menschen selbst direkt vorkommen.

Was wirklich spirituell fördert, menschlich aufbaut, weiterbringt, ist eben immer seltener die Zentralveranstaltung im Gemeindezentrum, sondern immer öfter das Beziehungsnetzwerk. Oder anders: die Beziehungsgemeinde.
Schauen wir uns an, wie sich die Gesellschaft um uns herum wandelt, so wird Organisation immer dezentraler. Struktur immer mehr zu einem flüchtigen, verformbaren Konstrukt. Struktur wird weniger statisch und immer mehr organisch. Was heute noch enge Ortsbeziehung war, wird morgen zu loser Fernbeziehung. Was heute regelmäßiges Gruppentreffen war, wird morgen zum zielgebundenen zeitlich begrenzten Projekt. Bei Bedarf, spontan organisiert, wie ein Flash-Mob.

Die Frage ist, wie ein Gemeindeverein aussehen kann, der diesen Phänomenen Rechnung trägt. Der diese unvermeidlichen Aspekte akzeptiert, versteht und positiv in seine Struktur integriert, so dass dadurch wiederum der transzendentale Aspekt gelebt und vermittelt werden kann. Der eigentliche Sinn und Zweck hinter dem Konstrukt.

Solange der Gemeindeverein darauf ausgerichtet ist, zunächst die drängenden, organisatorischen, handhabbaren Probleme zu lösen, solange wird er keine Resourcen haben, sich mit den großen, eigentlichen und zielorientierten Problemen zu beschäftigen.
Aus der psychologischen Beratung kennen wir diesen Punkt: Wenn der Ratsuchende glaubt, immer erstmal die naheliegenden Probleme zu lösen, bevor er anfängt, Visionen und daraus Ziele zu entwickeln, dann wird er niemals weiterkommen. Er wird immer nur reaktiv aktuelle Probleme abarbeiten, aber niemals die große, notwendige Wende angehen. Und er wird getrieben wie ein Blatt im Wind. Er bleibt in seinem Teufelskreis gefangen.
Leider wird oft vernachlässigt, dieses Wissen auf Gruppen zu übertragen.

Der wesentliche Aspekt, über den sich Gemeinde Gedanken machen muss ist:
Wie kann der Gemeindeverein dazu beitragen, dass sich die Beziehungsgemeinde voll entfalten kann?

Wenn man die Frage nun so stellt und sie intensiv verfolgt, dann kann es sein, dass die Antwort überraschend anders aussieht, als bisher angenommen. Dass sie eben nicht hochpriorisiert die Verbesserung der Zusamenarbeit zwischen Technik, Musikteam und Gottesdienstleitung, die Synchronisierung zwischen Gemeindebrief und Webauftritt, die Optimierung der Tonaufnahmen und Übertragungen in den Kinderbetreuungsraum oder die korrekte Einordnung der Jugendgruppen in die Diakonatstruktur zum Thema haben.

Vielmehr werden die Fragen viel stärker die Menschen, ihre Bedürfnisse, ihre Nöte und ihre Anknüpfpunkte für Glaubensfragen betreffen. Beziehungsgemeinde rückt dann in den Vordergrund, und Gemeindeverein und Gemeindezentrum sind dann nachgeordnet.

"Zuneigung zu den Menschen und Abneigung zur Gruppe" empfinde ich inzwischen gar nicht mehr so verwirrend. Vielmehr ist sie für mich meist ein Indiz dafür, dass die Anforderungen und Aufgaben des Gemeindevereins die Beziehungsgemeinde nicht mehr fördern, sondern Energie von dieser abziehen.
Und "Wörter wie Stress, schwerfällig, leblos, Frust" sind dann eine logische Folge dieser Spannung.

Um einmal einen persönlichen Beitrag dazu zu geben:
Aus meinem Gemeindeverein wurde ich als Leiter der Technik im ersten Quartal 2011 von vier Leuten zu drei organisatorischen Sitzungen eingeladen und habe weitere zwei persönliche Konfliktgespräche bewältigen müssen, plus zusätzlicher Absprachen zu Problemen und zur Organisation per Mail oder in Gottesdienst-Nachgesprächen.

Im selben Zeitraum hatte ich außerhalb meines Hauskreises genau zweimal einen Austausch darüber, wie es mir geht und wie es meinem Gegenüber geht.

In meinen Augen ein Missverhältnis, wenn man die spirituelle Ausrichtung als Sinn, Zweck und Ziel von Gemeinde begreift.

M. dazu:
"Eine Spannung die ich weder erklären noch beseitigen kann. Liebe zum Menschen, aber Enttäuschung von Effizienz, Struktur und Ausrichtung??? Das Gefühl, dass es eben nicht hart auf hart kommt, weil man sich mehr mit Organisation als mit einem lebendigen Gott beschäftigt und Gemeinde gar nicht zeigen kann, dass sie Gemeinde ist."
Gemeinde, Beziehungsgemeinde, sind zunächst und vor allem wir, du und ich. Und wir stehen immer wieder vor der Entscheidung, inwieweit wir Beziehungsgemeinde leben wollen, oder den Anforderungen des Gemeindevereins Rechnung tragen.
Wir können die Spannung insofern beseitigen, dass wir aus unserem Erleben, aus unserer inneren Haltung dazu eine Antwort darauf geben.

Haben wir, du und ich, die Augen dafür offen, wo es "hart auf hart" kommt? Werden wir dann entsprechend priorisieren und die Beziehungsgemeinde dem Gemeindeverein voranstellen?
Dann haben wir -für uns und für den, dem wir begegnen- die Spannung aufgelöst.
Und der Transzendenz-Aspekt, der eigentliche Sinn und Zweck, rückt wieder in den Vordergrund.

(Übrigens: Genau das ist in einem der ersten Kapitel von "Schrei der Wildgänse" thematisiert: Der Co-Pastor, der lieber den Besucher durch das Gemeindehaus begleitet, anstatt seine "Pflichten" an der Tontechnik zu erfüllen. So fing für Jake alles an....)

2010-10-05

Telepolis: "In den Fängen der Evangelikalen"

Schon heftig, was Jürgen Wolther in diesem Artikel auf Telepolis so schreibt.

Ein klares Beispiel von geistlichem Mißbrauch.

Schade nur, dass da die Differenzierung fehlt. Aber schließlich ist es ein Interview, und das noch mit begrenztem Platz.
Hier können vielleicht die Kommentare weiterhelfen.

"Ich habe selbstverständlich nicht alle Freikirchen Deutschlands kennengelernt, aber durchaus viele. Und von denen konnte man durchaus alle als evangelikal bezeichnen."


Leider wird nicht klar, ob her Wolther hier Ortsgemeinden einer bestimmten Richtung oder tatsächlich unterschiedliche Gemeinden aus unterschiedlichen Gemeindebünden -und damit Richtungen- beschreibt. Der Rest des Interviews scheint sich jedenfalls auf eine konkrete Gemeindeerfahrung zu beziehen, und ist damit hoch interessant, aber eher plakativ als repräsentativ.

Und so wird dann doch letztlich alles über einen Kamm geschoren und Christen sind prinzipiell sektiererisch und böse. Dawkins würde sich beim Lesen entspannt zurücklehnen.

Was für Gemeinden bleibt, die nicht einer solchen Richtung angehören?

1.) Fordert niemals euere Mitglieder auf, sich aus der Welt zurückzuziehen und sich vom Weltlichen abzusondern (ganz einzelne Ausnahmen mag es geben, für die dies angesagt sein mag).

"Flüssige Kirche" (liquid church) durchdringt die Gesellschaft und sondert sich nicht ab.

2.) Seid sensibel dafür, wenn Beiträge und Kollekten im Wesentlichen "für die gemeindlichen Belange" gesammelt werden. Insbesondere, wenn alle anderen gerade für
die aktuelle Krisensituation des Monats (Haiti, Loveparade) sammeln.
Öfter mal eine Sammlung, die für charitative Zwecke dient, ist sicher angebracht. Oder wie wär's mal mit einem öffentlichen Verzicht auf Kollekte, verbunden mit der Aufforderung, direkt an bestimmte Konten zu spenden?

3.) Werdet und seid sensibel für Machtfragen und autoritäre Strukturen.

Und für den einzelnen Christen in den Ortsgemeinden:

1.) Schaltet nicht euer Gehirn aus. Bleibt offen für Kritik. Sowohl von Außen als auch aus dem eigenen Schädel.

2.) Lernt rational zu argumentieren und auf solche Argumente angemessen zu reagieren. Nichts schadet dem christlichen Bild mehr, als wenn Christi Anhänger sich in Totschlagargumente und Strohmann-Debatten flüchten.

3.) Bleibt in allem gelassen. Fantischer Eifer schadet mehr, als er vermittelt (Hey, der gilt mir! ;-) ).

So, nun kannst du deinen eigenen Senf dazugeben.

2010-08-29

Wunder ...

Auf dem Blog Laut Gedacht hat M. über das Thema Wunder geschrieben. Als ich den Text gelesen habe, gingen so einige Gedanken bei mir los. Und die will ich hier einmal aufschreiben. Dieser Artikel ist keine Antwort, sondern ein eigener Gedankengang, angestoßen durch den Laut-Gedacht-Artikel. Ein Seitenweg quasi.

Hier meine Gedanken, roh geschreiben, daher in loser Folge.


1.) Der letzte Absatz ist gefährlich.
Die Aussage, Gott wirkt Wunder, wo es Menschen katastrophal schlecht geht, er wirkt keine (grossen) Wunder, wo es Menschen gut geht, da es ihnen ja auch ohnedem gut geht, sagt ja in letzter Konsequenz aus, dass wir Gott nicht brauchen, solange wir selber dafür sorgen, dass es uns gut geht:

Es ist unser Gesundheitssystem, unsere Wirtschaft, unser freiheitliches Rechtssystem, dass ein Wirken Gottes überflüssig macht.

Ist das so?

2.) Ein Problem ist, dass wir nur dann etwas als Wunder anerkennen, wenn etwas bestimmtes passiert. Für uns scheint es aber kein Wunder, dass etwas nicht passiert.

Von daher kann die Aussage "wir brauchen keine Wunder, da bei uns ja keine grösseren Katastrophen passieren" auch anders gesehen werden. Es ist vielleicht ein Wunder, dass bei uns keine grösseren Katastrophen passieren, da wir mit unseren Kernkraftwerken, Fabriken, Chemieproduktionen und Verkehrsaufkommen durchaus Potential für katastrophale Ereignisse haben.

3.) Fragen:
Wie passen in dieses Bild Flutkatastrophen in deutschen Grossstädten? (Hamburg, Dresden) http://www.elbelche.de/alt/flut/
... oder andere Katastrophen, die dann eben doch passieren?

Wenn Gott tatsächlich mit Wundern bei Katastrophen eingreift, warum greift er dann nicht vor den Katastrophen ein, so dass sie ausbleiben? (Gute Gegenfrage: Vielleicht tut er das auch,aber wie will man das wahrnehmen, wenn die Katastrophe ja eben nunmal ausbleibt?)

... oder: warum wirkt er nicht Wunder an allen Betroffenen, sondern nur an einzelnen?
(Gott, hab Dank, dass unsere Kinder nicht zum Zeitpunkt X bei der Loveparade waren ... ???)

Grundsatzfrage: Was ist überhaupt eine "Katastrophe"?
Ist das nicht a) eine sehr menschliche Sicht eines faktischen Ereignisses?
Gibt es b) nicht auch subjektive Katastrophen, die nicht unbedingt die Massen betreffen, aber im kleinen Kreis doch genug Not erzeugen, um ein Einwirken Gottes rechtfertigen zu können? Die private Katastrophe eben?

4.) Was ist eigentlich ein "Wunder"?
M. schrieb:
"Auch wenn vieles in unserem Leben (wie Geburten, Nächstenliebe, unwahrscheinliche glückliche Zufälle, die Schöpfung usw.) doch sehr schön und faszinierend ist so sind es doch keine Wunder. "
(Hervorhebung von mir)
Nun, zu sagen, die Schöpfung sei kein Wunder, steht auf wackligen Beinen. Wenn man sagt, dass Dinge wie Geburten kein Wunder sind, da sie ja nunmal natürlicher Teil der Schöpfung sind, so ist das nachvollziehbar.
"Die Schöpfung" selbst aber wäre demnach sogar automatisch ein "Wunder" da sie selbst eben nicht Teil ihrer selbst -der Schöpfung- sein kann.
Ich würde sogar sagen, wenn überhaupt irgend etwas ein Wunder ist, dann ist es genau die Existenz alles Existierenden an sich. Denn man kann nicht die Natur durch die Natur erklären, ohne in einen Zirkelschluss zu geraten.

Daneben hatte ich in der Vergangenheit schon den Eindruck bekommen, dass "glückliche Zufälle" durchaus "Wunder" im Sinne eines Eingreifens Gottes sein können.

Grund: H.P. Dürr beschreibt sehr schön die Zukunft als "Potentialität" der Gegenwart.
Als eine Menge von Optionen, wie die nächste Gegenwart, basierend auf der aktuellen Gegenwart, aussehen könnte.
Die aktuelle Gegenwart ist dann Quasi der Ereignishorizont, wo aus der Menge der potentiellen Gegenwarten die eine, die wir erleben, ensteht. Jeden Moment neu.
Und die Vergangenheit ist dann quasi "geronnene Potentialität". Der Fluss des Möglichen verfestigt sich zum Seienden und erstarrt zum Gewesenen.

Wenn aus der Menge der potentiellen Gegenwarten nun die entsteht, die eine bestimmte
Situation begünstigt, auch wenn die Wahrscheinlichkeit für dieses Eintreten relativ
gering (wenn auch nicht Null) ist, so kann dies durchaus daran liegen, dass Gott ein Gott des Möglichen, des Potentiellen ist.

(BTW: Viele Geschichten funktionieren genau so: Das nicht Unmögliche aber Unwahrscheinliche ist es, dass die Story weitertreibt. Ansonsten wird sie berechenbar und somit langweilig.
Und wir erleben nunmal His-Story).

So kann man durchaus atheistisch argumentieren, dass die Entstehung der Erde und des
Menschen nur ein Fall statistischer Wahrscheinlichkeiten in einem Universum mit den Gesetzmässigkeiten wie den unseren ist. Trotzdem kann man eben genau darin ein Göttliches Handeln (=Wunder) sehen, dass dieses Universum mit seinen Gesetzmässigkeiten und Potentialitäten überhaupt existiert, und dass ein nicht unmöglicher, aber unwahrscheinlicher Fall überhaupt eingetreten ist.

Hier aber kommen wir an ein weiteres philosophisches Problem:
Die Wahrscheinlichkeit, dass genau unsere Welt existiert ist ggf. sehr sehr klein, aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine ähnlich geartete Welt existiert, vielleicht nicht mehr so. Würden wir nun in einer der anderen möglichen Welten leben, so würden wir vielleicht genau diese als ein Wunder ansehen.

Ist es nun also nur dann ein Wunder, wenn beim Würfelspiel eine Sieben erscheint? (Also: Außerhalb der Gesetzmäßigkeiten)
Aber ist es kein Wunder, wenn eine Fünf genau dann erscheint, wenn man sie so dringend braucht? Der Statistiker würde letzteres Verneinen. Kein Wunder, sondern nur glückliches Zusammentreffen. Aber wenn Gott ein Gott der Möglichkeiten ist, und ein gering wahrscheinliches Ereignis trotzdem zielsicher passieren lässt, wäre das dann weniger göttlich?

Ich glaube nicht. Es gäbe noch mehr dazu zu sagen, doch dazu reicht dieser Artikel nicht.

Soweit zum Thema Wunder an sich. Noch ein weiterer Punkt:

"Man glaubt an einen übernatürlichen Gott und irgendwie sucht dennoch nach immer mehr Übernatürlichkeit. Die Motive dafür sind sehr verschieden. Manchmal habe ich das Gefühl man sucht eine Art persönliches Gottesbeweis und hofft dadurch die Zweifel auslöschen zu können"

Dieser Aspekt geht ggf. noch tiefer:

Die Frage nach der RELEVANZ des Glaubens.

Wenn es einen Gott gibt, aber er greift in diese Welt nicht ein, dann hat er für mein Leben offensichtlich keine Relevanz, und der Glaube somit auch nicht. Es macht keinen Unterschied, ob ich glaube oder nicht. Ob ich bete oder nicht. Wenn Glaube aber Sinn machen soll, dann sollte die Relevanz auch erkennbar, erfahrbar sein.

Und

"Gott erwirbt sich unser Vertrauen, dadurch, dass wir das Wagnis des Vertrauens eingehen und jedes mal neu feststellen, dass es sich gelohnt hat. Vertrauen wächst. Vertrauen ist nicht einfach da, weil ich einen kurzen Moment lang etwas erlebt habe."

Genau darum geht es aber doch.
Frage: Wodurch "stellen wir" es denn "fest", dass es sich gelohnt hat?
Dadurch, dass ein Gebet nicht erhört wurde?
Dass ein geliebter Mensch eine Katastrophe doch nicht überlebt hat (der böse Nachbar aber schon)?
Dass eben KEIN Wunder geschehen ist?

Hier wird es kritisch: Worauf soll ich vertrauen, wenn ich mich auf nichts verlassen kann? Sich nichts als vertrauenswürdig erweist?

So halte ich den Versuch, zumindest auf lange Sicht einen Sinn, eine (gute!) Absicht in den Dingen zu erkennen, schon durchaus für gerechtfertigt. Und das "Wunder" bezieht sich dann auf die großen Zusammenhänge. Das Wunder "Schicksal" eben. Wenn diese Zusammenhänge nicht irgendwann sichtbar werden, woran soll man sich dann halten?

Vertrauen -und damit Glauben- wird schon geprägt und gestärkt durch genau die Erfahrung, dass sich das auch lohnt. Dass man nicht als Betrogener dasteht. Alleingelassen.

Die Frage nach "Wunder" hat somit in meinen Augen schon durchaus seine Berechtigung.

Soweit mal vom MentalRover

2010-08-09

Morgengedanken: Das Gewebe des Lebens

Ein grüner Faden in einem roten Teppich ist bedeutungslos.

Erst viele grüne Fäden in einem roten Teppich werden wahrgenommen. Haben die Chance, Strukturen herauszubilden, Muster. Vielleicht sogar Muster mit Bedeutung.

Die Entscheidungen jedes Einzelnen, zu reden oder nicht zu reden, zu handeln oder nicht zu handeln, haben Einfluss auf seine Umgebung. Auf seine Mitmenschen. Setzen Impulse, oder nicht. Bringen andere dazu, zu reden oder nicht zu reden, zu handeln oder nicht zu handeln, eigene Entscheidungen zu treffen. Aktion führt zu Reaktion führt zu Reaktion führt zu Reaktion.

So sind wir alle Fäden in einem Gewebe. Fäden mit unterschiedlichen Farben. Jede Entscheidung, jede Aktion oder Nicht-Aktion hat Einfluss auf die Umgebung, und somit auf das Gesamtbild.

Zu jedem Zeitpunkt bildet die Summe aller Entscheidungen, aller Aktionen oder Nicht-Aktionen, Strukturen aus. Muster. Und diese Strukturen und Muster verbinden sich zu übergeordneten Strukturen und Mustern, zu Formen, bis sich schließlich das Gesamte zu einer Gesamtstruktur vereint. Die übergeordnete Gestalt des Seins formt sich heraus.

Gestalt des Seins vor dem Hintergrund des Nicht-Seins.

Jede Generation bildet die Basis, das Fundament, auf dem die nächste Generation heranwächst. Entscheidungen, Aktionen und Nicht-Aktionen bestimmen, welche Werte, welche Anlagen, welche Vorlagen wir der nächsten Generation als Grundlage ihrer Entscheidungen mit auf den Weg geben.

Die Welt ist im Wandel. Jede Generation trifft neue Entscheidungen, neue Aktionen und Nicht-Aktionen. Mit jeder Generation verändert sich das Gesamtbild, die Gesamtstruktur über die Zeit. Das Gebilde unterliegt insgesamt einer Evolution.

So wie ein Faden einen Anfang und ein Ende hat, so hat unser Leben ein Anfang und ein Ende.
Und ist doch Teil des Gesamtgewebes namens Leben.
Nicht nur zu einer Zeit, sondern über die Zeiten hinweg betrachtet, bildet das Leben ein Gesamtgebilde. Eine Struktur aus Strukturen der einzelnen Zeiten. Eine Über-Gestalt.

Auch wenn ein Leben nur 80 Jahre dauert, in einer Flut von Tausenden von Jahren, in einem See von Milliarden Individuen pro Generation. So ist doch jedes einzelne Leben ein Faden, der Teil des gesamten Gewebes ist, und mit zum Muster beiträgt.

Und das gesamte Muster mag mehr sein, als eine Ansammlung von Strukturen. Es mag Form haben, mag eine Gestalt bilden. Und mit dieser Gestalt auch Bedeutung.

Vielleicht ist ein Leben wenig bedeutsam, im Vergleich zur Menge an Menschen in der Welt, zu allen Zeiten. Aber jedes Leben ist doch Teil der gesamten Gestalt und trägt dazu bei.
Ein Atom für sich mag unwichtig sein. Aber alle Atome zusammen sind bedeutsam, bilden Körper, Wesen, mich.

Wenn es keine Atome gäbe, gäbe es mich nicht. Die Gesamtheit aller Leben, die wir leben, bildet die Gestalt des Lebens aus. Ein Leben mag für sich betrachtet wenig bedeutsam sein, aber wenn alle Leben bedeutungslos wären, gäbe es die Gesamtstruktur nicht. In der Gesamtstruktur liegt die Bedeutung des Einzelnen. Es geht ums Ganze.

Das Wissen um diese Zusammenhänge könnte unsere Entscheidungen, unsere Aktionen und Nicht-Aktionen beeinflussen. Wo bekommen wir dieses Wissen gelehrt? Sind wir in der Lage, es zu verstehen? Sind wir in der Lage, damit umzugehen? Oder macht es uns hilflos, sind wir überfordert? Resignieren wir?

Wer bin ich? Als Einzelner. In meinem sozialen Umfeld. Auf der Arbeit. In der Gemeinde. In den Beziehungen, in denen ich lebe.

Wer sind wir als Gemeinde? In unserem sozialen Umfeld. Unserer Stadt. Unserem Land. In den Beziehungsstrukturen, die wir leben. Oder auch nicht leben. Gestalten oder auch nicht gestalten.
Kontrollieren, oder einfach nur geschehen lassen.

Der Faden im Teppich weiß nichts von dem Muster, was er selbst mit bildet. Er kann es nicht erfahren. Nicht erfassen. Selbst das Wissen, Teil einer größeren Struktur zu sein, würde nicht helfen. Die Struktur zu Erfassen würde bedingen, sie zu verlassen. Aus ihr aufzusteigen und sie von außen wahrzunehmen. So bleibt es: Das Gewebe des Lebens können wir trotz aller Philosophie und Theologie nie wirklich begreifen. Unser Sein, unser Erleben ist mehr, als wir begreifen können. Hier steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.

Gibt es einen Gott? Wenn ja, dann ist diese Wesenheit außerhalb des Gewebes namens Leben. Außerhalb der Gestalt, die unser aller Sein bildet.
Und damit ist sie erst recht unfassbar. Unbegreifbar. Jeglicher Versuch, sie zu verstehen muss zwangsläufig und unbedingt scheitern.

Alle unsere Versuche, über diese Wesenheit zu reden, sie in Worten darzustellen, müssen zwangsläufig weitaus zu kurz greifen. Sie sind lediglich Metaphern. Angepasst auf unseren Verstehenshorizont. Gedankenmodelle. Und armselige noch dazu.

Doch wo bekommen wir das überzeugend und begreifbar vermittelt? Wo werden uns klar und logisch die Grenzen des Verstehens gelehrt? Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich kenne mein Nichtwissen.

Viel zu oft verwechseln wir die Metaphern, die Gedankenmodelle, mit der Realität. Glauben, wir hätten die Wesenheit vollständig erfasst. Dann "wissen" wir plötzlich so viel. Wir "wissen", wie das Leben ist, wie Gott ist, wer wir sind, worum es geht, was zu tun ist und was zu lassen ist.
Und in diesem Moment entfernen wir uns weiter denn je von der Realität. Der göttlichen Wahrheit. Und wir merken es nicht einmal. Denn das Wissen um die eigenen Lücken und Grenzen setzt zunächst erstmal Wissen voraus. Aber anstatt nach dem Wissen zu streben, sind wir viel zu oft mit unseren Vermutungen und Phantasien zufrieden.

Wo bekommen wir gesundes Wissen gelehrt? Wo finden wir das, was in früheren Zeiten als Weisheit bezeichnet wurde? Das, was die Gesamtheit in den Blick nimmt und sich Zeit und Ruhe für Wahrnehmungen und Entscheidungen lässt? Nicht überhastet, nicht überlastet, nicht überstürzt? Nicht zu kurz greift, blind, mit Scheuklappen?

Quergedachte Gedanken - vertikal erhoben - der Blick frei - über den Tellerrand - zu neuen Horizonten

2009-11-24

Willow Creek "entdeckt" zwanzig Jahre alte Konferenzform

Irgendwie verblüfft und enttäuscht war ich schon, als ich wieder einmal feststellte, wie sehr Willow Creek in einer modernen Gesellschaft verhaftet bleibt und sich nicht von seinen Formen und Prinzipien lösen kann. Und dann -anstatt in Kommunikation mit der Gesellschaft- auf eigene Faust Erkenntnisse machen muss, die andere schon längst hatten.

So lesen wir im Newsletter diesen Monats:
[...]Nachdem der Kongres dann begonnen hatte, setzte am zweiten Tag ein Gewitter-Sturm die Elektrizität außer Gefecht, was bedeutete, dass weder der Beamer noch sonst etwas funktionierten. Der Kongress arbeitet mit hochauflösenden DVDs - also mußten die Anwesenden 4 Stunden lang auf einen Stromgenerator warten. Um die Zeit zu überbrücken, baten die Kongress-Organisatoren die Besucher, die Zeit zu nutzen und in ihren Teams den ersten Kongress-Tag auszuwerten.

Als der Generator endlich zur Verfügung stand, konnte der Kongress fortgesetzt werden. Für das Willow Team vor Ort war das ganze ein Alptraum. Wollten Sie doch gerne den Besuchern einen reibungslosen Kongress anbieten. Aber ... als der Kongress zu Ende war, ergab sich ein überwältigendes Feedback.

Ganze Teams berichteten davon, dass es gerade diese 4 Stunden Team-Zeit waren, die Gott benutzt hatte, um die Impulse des ersten Kongress-Tages zu vertiefen und daraus ganz konkrete Entscheidungen abzuleiten. Was zunächst als Störung wahrgenommen wurde, erwies sich im Nachhinein als großer Gewinn.

Only God ... so heißt es bei Willow immer wieder! Allein Gott kann so etwas bewirken.
Ohne das Wirken Gottes auf diesem Kongress in Abrede stellen zu wollen, finde ich es trotzalledem irgendwie wieder bezeichnend für das eingefahrene Willow-Denken: Kongresse funktionieren mit Beamern und DVDs, und wenn es Ausfälle gibt, ist das eine Katastrophe.
Kongresse funktionieren von vorne, und wenn man Teams und Gruppen Freiräume gibt, einfach drauflos zu arbeiten, dann ist das eine Katastrophe. Halleluja, welch Wunder Gottes, wenn es dann doch funktioniert, und auch noch als richtig gut empfunden wird!

Mich stimmt diese Geschichte eher ein wenig traurig, auf jeden Fall jedoch nachdenklich. Denn schließlich ist die Erkenntnis des beschriebenen Effektes nicht neu. Harrison Owen hatte ähnliche Erkenntnisse bereits 1985, und zwar nicht für eine christliche, sondern für eine Organisationsentwickler-Konferenz. Er schuf damals Open Space, heutzutage eine von mehreren Arten einer sogenannten Unkonferenz (Unconference), z.B. neben dem Bar Camp, welches es als Konferenzform nun auch schon seit mindestens vier Jahren gibt .

Wieso geht also eine so große Institution wie Willow Creek, die sich eigentlich genau mit solchen Themen, wie zeitgenössische Gesellschaft und ihre Erscheinungsformen, Tagungen und Kongressen usw. auskennt, hin und stellt so dar, als hätten sie es ganz plötzlich und völlig neu entdeckt?

Auch hier wieder kann ich nur sagen: Liebe Mitchristen, bleibt am Puls der Zeit! Sonst lauft ihr, wie leider so oft, nur der Gesellschaft hinterher.

Wie schwer scheint es doch im christlichen Sektor zu sein, die Macht des Expert-on-front aufzugeben, die Planungssicherheit der Agenda, die Steuerung und Kontrolle durch Handlungsvorgaben an Arbeitsgruppen und Konferenzteilnehmer, und stattdessen Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen in die Teilnehmer und deren Kompetenz, Vertrauen in das, was in einer Gruppe auf dynamische Weise entstehen kann (Emergenz, Schwarmintelligenz, Gruppendynamik, wasauchimmer) und vor allem mal: Vertrauen in eben den Gott, den sie selbst postulieren.

Es ist für mich wirklich schwer zu verstehen, wie man die lebendige Dynamik biblischer Geschichten lesen und glauben kann, und dann völlig erstaunt und verblüfft vor der lebendigen Dynamik der Wirklichkeit steht, und Plänen, Konzepten und Techniken mehr vertraut hat, als dem lebendigen Gott?

Das ist für mich irgendwie bizarr!

2009-11-19

Was ist eigentlich ein "Kategorienfehler" ?

Was ist eigentlich ein Kategorienfehler?

Laut Wikipedia:
Unter Kategorienfehler versteht man eine bestimmte Art von Fehlschluss. Ein Kategorienfehler liegt vor, wenn ein Terminus einer bestimmten Kategorie durch einen Terminus ersetzt wird, der nicht zu dieser Kategorie gehört.
Unter dem Link zum Lexikon der Linguistik finden wir ein Beispiel:

Ein Ausländer kommt zum ersten Mal nach Oxford oder Cambridge, und man zeigt ihm eine Reihe von Colleges, Bibliotheken, Sportplätzen, Museen, Laboratorien und Verwaltungsgebäuden. Nach einiger Zeit fragt er:

„Aber wo ist denn die Universität? Ich weiß jetzt, wo die Mitglieder eines College wohnen, wo die Verwaltung untergebracht ist, wo die Wissenschaftler ihre Versuche machen und so weiter. Aber warum zeigt man mir nicht die Universität, wo die Mitglieder eurer Universität wohnen und arbeiten?“

Dann muss man ihm erklären, dass die Universität nicht noch eine weitere ähnliche Institution ist, ein weiteres Gegenstück zu den Colleges, Laboratorien und Verwaltungsgebäuden, die er schon gesehen hat. Die Universität ist einfach die Art und Weise, in der alles das organisiert ist, was er schon gesehen hat. Wenn man das alles gesehen und die Art und Weise der Zusammenarbeit verstanden hat, dann hat man die Universität gesehen.

Ein Kategorienfehler liegt also dann vor, wenn Begriffe miteinander in Beziehung gebracht werden, die gar nicht zur selben Kategorie gehören.

Ein Kategorienfehler kann aber auch dadurch entstehen, dass in einer Argumentation einem Wort zwei verschiedenene Bedeutungen aus unterschiedlichen Kontexten zugewiesen werden, ähnlich einem "Teekesselchen" (Bank als Sitzgelegenheit und Bank als Geldinstitut).
Meist ist die Verwechselung nicht so klar einsichtig wie in dem Bankbeispiel. Sie tritt meist dann auf, wenn oberflächlich gesehen klare Begriffe von verschiedenen Fachkreisen mit spezifischen Bedeutungen versehen werden.

So ist es in diesem Sinne ein Kategorienfehler, wenn in einer Diskussion um das Wort "Emergenz" auf einen Zusammenhang mit der "Chaostheorie" hingewiesen wird, und als Erläuterung dann der Begriff "Chaos" durch das biblische Tohuwabohu erläutert wird.

Der Fehler besteht darin, dass die Chaosforschung (wie sie besser genannt wird), die sich mit der Theorie der komplexen Systeme (wie sie korrekt heißt) auseinandersetzt, als Teilgebiet der Mathematik den Begriff "Chaos" ganz anders definiert. Sie sieht darin eine bestimmte Form von Prozess, dessen Vorhersagbarkeit stark reduziert ist, da eine minimale Veränderung der Eingangsvariablen zu einem stark verschiedenen Resultat am Ende führen. Dies ist oft auch auf Wechselwirkungen zwischen Variablen des betrachteten Systems zurückzuführen.
Einen Prozess als "chaotisch" zu bezeichnen ist in der Mathematik lediglich die sachliche Bezeichnung einer bestimmten deterministischen Qualität.

Der biblische Begriff Tohuwabohu hingegen drückt prinzipiell einen Zustand (und nicht einen Prozess) aus, der Wüste und Leere, Verwirrung und existenzielle Unordnung beinhaltet und durch göttliches Einwirken erst in den Zustand des "Kosmos", also der Schöpfungsordnung, überführt werden muss. Der Begriff hat somit eine ontologische, durchaus auch wertende Bedeutung und Qualität.

Aus den genannten Beschreibungen geht hervor, dass eine Verwechselung oder Vertauschung dieser beiden Begrifflichkeiten in einer Argumentation zwangsläufig zu Verwirrung und zu Fehlschlüssen führen muss, insbesondere wenn damit auch noch Wertungen verbunden sind.