Wie steht es heute eigentlich um den Begriff "Weisheit"?
Um darüber zu sprechen, muss man natürlich erst einmal den Gegenstand der Debatte definieren. Und hier kommt uns natürlich wieder Wikipedia zu Hilfe:
Als Weisheit wird eine transkulturell-zeitlose, universal-menschliche, reale oder ideale, entweder als reifungsbedingt erwerbbar oder aber als göttlich verliehen gedachte exzeptionelle Fähigkeit bezeichnet. Sie zeichnet sich durch eine ungewöhnlich tiefe Einsicht in das Wirkungsgefüge von Natur, Leben und Gesellschaft, besonderes Wissen, eine herausragende ethisch-moralische Grundhaltung und das damit verbundene Handlungsvermögen aus.Weisheit ist auch explizit ein wichtiger Aspekt in der Bibel, z.B. archetypisch präsentiert durch die Figur des König Salomo. Auch werden einige Schriften der Bibel als sog. Weisheitsliteratur bezeichnet, da ihr Inhalt als die schriftliche Niederlegung von eben diesen tiefen Einsichten und/oder den daraus folgenden Handlungsanweisungen betrachtet wird. (vgl. dazu auch wieder Wikipedia).
Aus unserem heutigen Alltag ist der Begriff der Weisheit fast völlig verschwunden, und findet sich, wenn überhaupt, nur noch in fantastischer Literatur. Das allgemeine Streben geht in Richtung Wissenserwerb (Information), wissenschaftliche Beobachtung und Erkenntnis, den Ausbau kognitiver und kommunikativer Fertigkeiten als Mittel zum Zweck (sog. "Soft-Skills"), planerische und steuernde Fähigkeiten.
Weisheit jedoch, die neben all dem auch einen ethisch-moralischen Aspekt enthält, und die durch eher kontemplative Betrachtung der Welt und Meditation[1] über die beobachteten Phänomene zustande kommt, hat keinen Raum mehr.
Weisheit wurde früher unter anderem mit Lebenserfahrung in Verbindung gebracht, mit dem Alter und mit grauen Haaren. Weisheit bedeutete, dass der Erfahrene oder mit Erkenntnis Ausgestattete einen Rat gab, eine Handlung vollzog oder Ähnliches, die einem Jüngeren oder Unerfahreneren Hilfestellung und Leitung geben konnte.
Zum Weisen ging man, um sich einen Rat zu holen. Dem Weisen hörte man zu, denn was er sagte, hatte Bedeutung.
Heutzutage jedoch werden Alter und graue Haare eher mit anderen Aspekten in Verbindung gebracht: Senilität, überholter Tradition, Fixierung auf Vergangenes, Unverständnis für den modernen Lebensstil und daher Irrelevanz für diesen.
Man kann dies natürlich wieder mit der ungestümen Rebellion der Jugend, die nicht auf das Alter hören will, verargumentieren. Aber man kann es auch anders herum betrachten. Wenn die ältere Generation von vielen Dingen, mit denen moderne Menschen aufwachsen, überfordert sind (sowohl im geistigen Verständnis als auch in der moralischen Einschätzung), wie sollen sie da relevanten Rat geben können?
Jedenfalls nicht einfach deshalb, weil sie "alt" und somit "erfahren" sind.
Weisheit erfordert mehr. Sie erfordert, dass man "nach ihr strebt". Sich mit ihr bzw. ihren Inhalten auseinandersetzt. Die Welt aus einer gewissen Perspektive bewusst wahrnimmt und sich darüber Gedanken macht.
Aus religiöser Sicht, aus christlicher Sicht, ist Weisheit aber auch ein göttliches Geschenk. Eine Gabe. Etwas, das mit dem Glauben und mit Gott in Verbindung steht. Weisheit erfolgt aber auch aus dem Glauben, indem der Bekehrte lernt, die Welt aus Gottes Sicht zu betrachten.
Wikipedia:
Andererseits wird Weisheit auch mit persönlichen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht: „Der Weg des Narren erscheint in seinen eigenen Augen recht, der Weise aber hört auf Rat.“ (Sprüche 12,15) Die Bibel enthält auch direkte Handlungsanweisungen zur Erlangung von Weisheit: „Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege an und werde weise!“ (Sprüche 6,6)
Aber auch aus der Kirche haben wir den Aspekt der Weisheit eher verdrängt. Das Wort wird auch hier eher selten in den Mund genommen. Von der Kanzel werden keine Weisheiten vermittelt, sondern theologische Richtigkeiten. Texte werden genommen, seziert, analysiert, positioniert, interpretiert. Die Vermittlung der Weisheit, oder besser: die Anleitung des Hörers hin zur Weisheit zu kommen, kommt zu kurz.
Das scheint mir ein Grund zu sein, warum unsere Gottesdienste und Predigten heute so flach wirken, warum sie so wenig Auswirkung auf den Alltag haben. Wir werden nicht an die Hand genommen, um die Welt aus Gottes Sicht zu betrachten, und dadurch weise zu werden. Es fehlt die Anleitung, wie wir das, was wir im Rest der Woche auf uns einwirken sehen, mit Weisheit betrachten können, um daran zu wachsen.
Auch hier wieder mein Punkt: Ist die Kanzel-Predigt überhaupt der richtige Weg, das zu tun? Hat Vermittlung von Weisheit nicht auch etwas damit zu tun, dass man jemanden auf einem Weg begleitet?
In Israel war es damals üblich, dass Schüler ihren Lehrer auf Wanderungen begleiteten, und erlebten, wie dieser die unterschiedlichen Situationen des Lebens, mit denen sie konfrontiert wurden, behandelte. Wie er über sie dachte, was er darüber sagte, und welche Handlungen er daraus ableitete.
Und: Die Lehrer waren dazu da, Weisheit und Erkenntnis zu vermitteln, nicht lediglich Wissen und Fertigkeiten.
Leider glauben wir, anderen Menschen, und insbesondere unseren Kindern und Jugendlichen, Weisheit und Glauben mit dem Textbuch und der Gruppendiskussion vermitteln zu können.
Aber Weisheit hat nicht nur etwas mit dem Predigt- und Lehr-Stil zu tun. Weisheit ist ebenso ein wesentlicher Aspekt der christlichen Seelsorge. Hier ist der Punkt, wo es wirklich um die einzelne Person und ihren Lebensstil geht. Hier ist der Punkt, wo wirklich gezielt ihre Fragen und ihre Probleme zum Thema werden.
Hier ist der Punkt, wo viel für die Person Relevantes vermittelt werden kann. Wenn in dieser Situation Weisheit beteiligt ist, so führt sie am unmittelbarsten zu Handlungsanweisung, zu Veränderung.
Daher ist Seelsorge -in jeder möglichen Form- ein so wichtiger Aspekt von Gemeinde, und daher ist es tragisch, wenn dieser Aspekt im Gemeindeleben zu kurz kommt und zu wenig thematisiert wird.
Meine Fragen lauten daher am Ende:
Wo kann man "Weisheit" in Kirche erleben?
Wie kann "Weisheit" wieder ein Thema in Kirche werden?
Wie wollen wir künftig "Weisheit" vermitteln?
[1] "Meditation" ist hier nicht im Sinne einer religiösen Übung gemeint, sondern eher zu verstehen als das tiefe Nachdenken über Gesehenes und Gehörtes, das Zeit braucht und sich diese Zeit auch nimmt.