2009-04-29

Morgengedanke: Vom Pharisäertum ...

Pharisäer, zur Zeit des Neuen Testamentes der Name einer jüdischen Richtung, einer ..hm.. jüdischen Sekte, ist für Christen der heutigen Tage zu einem Schimpfwort geworden.

Was drückt es aus, jemanden als "Pharisäer" zu bezeichnen?

Zunächst einmal werden uns im Neuen Testament Pharisäer als Menschen vermittelt, die auf eine falsche Weise Zugang zu Gott finden wollen. Sie sind ernsthaft um Gott bemüht, aber sie versuchen Gott auf einem falschen Weg zu erreichen. Den Weg der Leistung, der Perfektion, der Selbstdisziplin, der absoluten Fehlervermeidung.

Dies ist im Endeffekt den Weg der Strenge und der Enge, der Gesetzlichkeit. Durch immer neue Regeln versuchen sie, unter allen Umständen auch nur die Möglichkeit eines ungewollt verursachten Fehlers auszuschließen. Sie versuchen, jeglichen Flecken zu tilgen. Sie sterilisiern.
Und letzten Endes schaffen sie dadurch eine unmenschliche, lebensfeindliche Umgebung. Das Sabbathgebot, eingerichtet zur Entlastung, wird verzerrt, wird zu einer nur schwer tragbaren Last. (Matth.12,1-6)
Die Suche nach Gott, das Handeln im Glauben im Alltag wird ersetzt durch Exegesefragen und Rechtsstreitigkeiten. Die Frage nach exakter Auslegung des Wortlautes wird wichtiger als die Frage nach Intention. Die Frage nach korrekter Form wird wichtiger als die Frage nach Inhalt.

Schließlich mündet dies in einen sehr ungesunden Zustand: Der Weg der Leistung und der Strenge mündet darin, sich selbst zu rechtfertigen. Sich über den anderen zu erheben. Seine eigene Leistung dazu zu benutzen, den anderen zu erniedrigen und sich selbst über ihn zu setzen. "Herr hab dank, dass ich nicht so bin wie jener dort". (Luk.18,9-12)
Alfred Adler, Psychotherapeut und Schüler Freuds, beschreibt ein solches Verhalten in der von ihm begründeten Individualpsychologie.
Die Wahrnehmung eigener Minderwertigkeitsgefühle führt zu einem Verhalten der Kompensation und letzlich der Überkompensation. Eigene Mängel und Schwächen werden wahrgenommen, aber oft nur vorbewußt, denn sie schmerzen. Können bei sich selbst nicht zugelassen werden.
Daher werden sie nach Außen projiziert. Beim Anderen verstärkt und überzeichnet wahrgenommen.
Diese Projektion und der Versuch diese Schwächen zu kontrollieren und in den Griff zu bekommen führt jedoch dazu, den Mangel beim Anderen zu bekämpfen, anstatt bei sich selbst. (Mt.7,3)

So wird Pharisäertum aber letzten Endes auch ein Phänomen von Machtstruktur. Die Pharisäer sind eine herrschende Schicht. Sie haben die Macht. Sie setzten sich durch. Sie sitzen am Hebel. Sie bestimmen, was recht ist und was nicht. Und sie schaffen Unbequemes, was ihre Macht bedrohen würde, aus dem Wege: "Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbrächten." (Mk. 3,6)

Jesus hat mit den Pharisäern nicht "aufräumen" können. Auch in späterer Zeit bildeten sich in der Kirche Strukturen mit pharisäerischen Zügen heraus. War dies eine Begleiterscheinung der Ausbildung hierarchischer Strukturen? Quasi ein Virus, der diese Strukturen als Lebensraum ausfinding machte und sie befiel? Oder war es umgekehrt die pharisäerische Tendenz in bestimmten Kreisen der jungen Kirche, die genau die Bildung hierarchischer Machtstruktur katalysierte, forcierte, hervorbrachte?

Es geht weit über diesen Artikel hinaus und bleibt Aufgabe der Soziologie, den Zusammenhang zwischen hierarchischen Ordnungen in Gruppen, Machtstrukturen und Ausnutzung derselben zu erforschen. Und ebenfalls festzustellen, wie die Ausnutzung und Verzerrung von ursprünglich als sinnvoll eingesetzen Leitungsordnungen verhindert werden kann.

Zurück zum Thema:
Ein Verhalten heutzutage als Pharisäertum zu bezeichnen, ist eine ziemlich heftige Geschichte. Harte Kritik. Der Inbegriff alles Schlechten, was Glaube hervorbringen kann. Aber -und das ist die Kehrseite- es ist eben auch geäußerte Kritik. Hinweis auf die Wahrnehmung von Mißständen. Hinweis auf die Wahrnehmung von Fehlverhalten.

Wie geht man aber nun mit Kritik um? Da gibt es prinzipiell zwei Verhaltensweisen:

a) Man nimmt diese Kritik, zieht sich zurück und überlegt, ob und inwieweit an dieser Kritik etwas dran ist. Man denkt darüber nach. Kurz: Man reflektiert.

b) Man fühlt sich angegriffen. Man empört sich. Und geht in den Gegenangriff über.

Für das Verhalten a) ist als Voraussetzung notwendig, dass man bereits ein stabiles Selbstbild hat. Ein Selbstbild, das durch Kritik nicht sofort ins Wanken gerät. Ein Selbstbild, das Fehler durchaus erkennen und zulassen kann, weil Vertrauen in andere Teile des Selbst weiterhin tragen.
Das Verhalten a) führt im konkreten Fall nun dazu, dass man sich ernsthaft fragt: "Bin ich ein Pharisäer"?

Wodurch aber wird Verhalten b) ausgelöst?
Die Kritik und das Gefühl des Angegriffen-werdens führt dazu, dass das eigene Selbstbild in Gefahr gerät. Dies gilt es aber, wie oben erwähnt, unter allen Umständen zu vermeiden. Das darf nicht sein! Und dies ist die Basis der Empörung. Dies löst die Abwehrhaltung aus, und den Gegenangriff.

Das, was mit dem Begriff "Pharisäer" kritisiert wird, betrifft aber nun sehr stark die Persönlichkeitsstruktur, die im Verhalten b) beschrieben wird.

Somit könnte man sehr spitz auf den Punkt gebracht sagen: Wer sich hinsetzt, reflektiert und sich selbst fragt: "Bin ich ein Pharisäer?" -> der ist keiner.

Der, der wirklich ein Pharisäer ist, wird sich umgekehrt nie hinsetzen und über diese Kritik nachsinnen.

Somit ist der Versuch, bei jemandem Kritik anzubringen, indem man ihn auf sein Pharisäertum hinweist, von der Grundstruktur her schon zum Scheitern verurteilt.

Ein weiterer Gedanke:
Der Mensch hat -so die moderne Gehinrforschung- die Tendenz, Intentionalität und Selbstbezug in ein Geschehen hineinzuinterpretieren. Auch wenn es keinen objektiven Hinweis darauf gibt, erdichtet sich das menschliche Individuum Absichten. Phantasiert Zusammenhänge. Empfindet Ereignisse als auf sich selbst bezogen, für sich bedeutsam.
("Bestimmt haben die gerade über mich geredet ...").

Gerade bei Selbstwertproblemen ist diese Tendenz zu beobachten und verstärkt das Grundgefühl des Angegriffen-werdens. Die Umwelt wird sehr schnell als feindlich wahrgenommen, Mißtrauen wird zur dominierenden Einstellung.

Fakten können nicht mehr sachlich aufgenommen werden. Auch wenn es keine sachliche Grundlage dafür gibt, steht die Frage: "Bin ich gemeint?" sofort im Raum.

Leser, die den Autor nicht kennen, können Artikel wie diesen hier sicher relativ wertfrei lesen und darüber nachdenken.
Aber ich könnte wetten, dass manche unter den Lesern, die mit dem Autor eines solchen Artikels bekannt sind, ihn nicht lesen können, ohne sich sofort zu fragen: "Meint er mich?" - "Warum hat er diesen Artikel geschrieben?, Will er mich damit etwa kritisieren?" - "Bezeichnet er MICH als Pharisäer?"

Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, dass dieser Artikel auf einer ganz anderen Basis zustandegekommen ist und ich dabei NICHT an DICH gedacht habe? ;-)

2009-04-15

Kindern Glauben vermitteln durch strategisches Programm?

Folgendes war im letzten Newsletter Willownews vom April 2009 als Werbung zu lesen:
Mark Holmen: Den Glauben zu Hause leben

Eltern befähigen, den Glauben mit Kindern zu leben

Dieses Buch ist Teil der Bewegung GLAUBEN ZU HAUSE, die
Gemeinden darin unterstützt, einen integrativen und
umfassenden Ansatz der Familienarbeit zu entwickeln. Dabei
geht es darum, Familien zu unterstützen, dass der Glaube zu
Hause Gestalt gewinnen kann. Glaubensprägung geschieht
wesentlich mehr zuhause, als durch die kirchliche
Kinderarbeit. Daher muss die Gemeinde für Familien zum
Partner werden, der sie darin unterstützt, Wege zu finden,
wie der Glaube zu Hause gestaltet werden kann.

Mit diesem Ziel haben Mark Holmen und David Teixeira ein
umfangreiches Arbeitsbuch zusammengestellt, das die Vision,
Strategie und praktische Umsetzung einer integrativen
Familienarbeit in der Gemeinde beschreibt. Hinzu kommen 13
kopierbare Einheiten, wie Eltern mit ihren Kindern den
Glauben in der eigenen Familie praktisch leben können. Die im
Buch enthaltende CD-ROM enthält umfangreiche
Arbeitsmaterialien für die Eltern-Kind-Impulse sowie
PowerPoint-Folien für die Vorstellung des Konzepts GLAUBEN ZU
HAUSE in der Gemeinde.
Während der erste Absatz ja noch recht positiv gelesen werden kann, stieß mir der zweite Absatz doch ziemlich auf.

"Vision, Strategie, integrative Familienarbeit..."

Für mich blieb beim Lesen ein fader Nachgeschmack, und die Frage: Ist es das? Definieren wir so unseren Glauben, unser Christsein?
Das Leben persönlicher Gottesbeziehung als Management-Auftrag?
Familienleben per Arbeitsmaterialien?

Ich frage mich, inwiefern sind wir noch (oder vielmehr: wieder!) in der Lage, unseren Glauben und unser Christsein aus der Perspektive der Beziehung, der Dynamik der Begegnung und der simplen Vermittlung von Liebe zu gestalten und vor allem zu vermitteln?

Inwiefern wird andersherum selbst der privateste Bereich durch christlich vorkonzeptionierte und vorkonfektionierte How-Tos durchdrungen?
Werden Situationen und Konstellationen, die ein Aufeinander-Hören und ein gegenseitiges in Achtung Wahrnehmen und Aufeinander-Eingehen verlangen, in ein vorgedachtes und durchdesigntes System-Management verwandelt?

Inwieweit wird Leben in seiner Spontaneität und Flexibilität durch Programmierung ersetzt?

An vielen Stellen klagen die Menschen, gerade die Berufstätigen, heutzutage über Überlastung, Stress, zu wenig zur Ruhe kommen.
Termine und Pläne werden oft als von Außen bestimmt und damit als Druck und Zwang erlebt. Wir werden getrieben von Anforderungen, Zielsetzungen, Kalendern.

Die Gesellschaft produziert auf diese Weise aber ihre eigenen Opfer. Verlierer werden einkalkuliert.
Nur der Stärkere (im Sinne von: Leistungsstärkere, Flexiblere, Opferbereitere) überlebt in diesem Szenario, Familien und andere Beziehungen bleiben auf der Strecke.

Anstatt nun diesem ungesunden Gesellschaftstrend durch Schaffung einer Alternative und eines Freiraumes in Gemeinde zu begegnen, anstatt eine Alternativkultur des Miteinanders zu begründen und vorzuleben, setzen wir diesen Trend, den auch wir als Christen im Beruf zum Teil leidvoll erleben, auch noch in unseren Gemeinden fort:

Aus Gemeinschaft wird Gemeinde-Arbeit. Aus Begegnung mit Jugendlichen wird Jugend-Arbeit.(*)
Und nun introjizieren wir diesen Trend auch noch in die privateste Struktur, die Familien, hinein.
Aus einem Zusammen-Leben von Menschen wird Familien-Arbeit.

Aus einer Gemeinschaft wird plötzlich ein durch Zielvorgaben bestimmtes, durch Programme gesteuertes Zweck-Unternehmen.

Fragt jemand die Kinder und Heranwachsenden eigentlich, ob sie von ihren Eltern als Ziel eines elterlichen Arbeitsprogrammes gesehen werden wollen?
Ob sie den Glauben ihrer Eltern als Kapitel 7 der familiären Christsein-Strategie vermittelt bekommen möchten?
Ob sie elterliche Liebe als Teil deren Glaubens erfahren wollen, weil es gemäß Impuls-Material gerade dran ist?


Anstatt sich mit "umfangreichen" Arbeitsmaterialien einzudecken und immer wieder zu versuchen, Glauben und Gemeinde durch vorgekaute Programme, Konzepte und Schemata in den Griff zu bekommen, wird es Zeit, dass Christen endlich wieder lernen, die Augen für die Menschen und die Gesellschaft um sie herum aufzumachen.
Bewusst auch mal über längere Zeit genau hinzuschauen und hinzuhören, und über das Gesehene und Gehörte im Dialog mit ihrem Herrn intensiv nachzudenken.
Wertfrei, offen, ohne Zweckorientierung.

Menschen, die nach Gott suchen (ob Erwachsene oder Kinder in Familien) brauchen weniger Programme und Arbeitsbücher als mehr persönliche Begegnungen mit Menschen, die ihnen als Gesprächspartner und Vorbilder dienen können. Die ihnen offen und wertfrei begegnen und im Dialog zur Verfügung stehen.

Und da fängt es schon an: Auch für die Suche nach Vorbildern brauchen wir ... Vorbilder.
Wie wächst man eigentlich im Glauben?
Wie findet man Menschen, zu denen wir genug Vertrauen entwickeln können, denen wir uns anvertrauen können, und die für uns zu persönlichen Mentoren werden können?
Wer ist Vorbild darin, Vorbilder zu suchen und zu finden?

Wenn die Gestaltung christlichen Familienlebens eine offene Frage ist (offensichtlich, da das Arbeitsbuch ja darauf eine Antwort geben möchte), und wenn wir aus der Seelsorge wissen, dass persönliches Gespräch und persönliche
Begegnung wichtig sind, um auf die individuellen Bedürfnisse und den Charakter der jeweiligen Menschen einzugehen (offensichtlich, da wir nicht die Seelsorgearbeit einfach durch ein breiteres Büchertisch-Angebot ersetzen), dann ist ein solches Arbeitsprogramm-Buch ein christlicher Stilbruch. Dann ist es in der Gesamtschau christlichen Soziallebens kontraproduktiv, mit solchen Materialien aufzufahren.


Die Frage, wie wir postmodernen Menschen denn Glauben vermitteln können, wird an allen möglichen Orten gestellt, und Antworten darauf klingen oft ähnlich: Durch persönliche Beziehung, durch lehrreiche Geschichten (Narrativium).
Auch z.B. das Thema Glaube, Zweifel und Gemeinde wird daher immer mehr in Romanform statt durch Sachbücher vermittelt.
Durch Erzählungen statt durch strukturierte Programme und Konzepte.


Unser Leben als Christen in Gemeinden soll vom Glauben erzählen, nicht unsere Lehrbücher und Schulungsprogramme.
Christus hat den Jüngern nicht eine Menge von Schriftrollen übergeben, sondern hat sie eingeladen, ihn auf der Reise seines Lebens zu begleiten und ihn quasi "live" zu erleben.

Das sollten wir berücksichtigen, gerade in der aktuellen Zeitgeist-Entwicklung. Sind wir dazu bereit? Oder bleiben wir in der Programmatik und Versachlichung/Funktionalisierung der Moderne haften?



(*) Von "Kinder-Arbeit" als Begriff mal ganz zu schweigen.