Was drückt es aus, jemanden als "Pharisäer" zu bezeichnen?
Zunächst einmal werden uns im Neuen Testament Pharisäer als Menschen vermittelt, die auf eine falsche Weise Zugang zu Gott finden wollen. Sie sind ernsthaft um Gott bemüht, aber sie versuchen Gott auf einem falschen Weg zu erreichen. Den Weg der Leistung, der Perfektion, der Selbstdisziplin, der absoluten Fehlervermeidung.
Dies ist im Endeffekt den Weg der Strenge und der Enge, der Gesetzlichkeit. Durch immer neue Regeln versuchen sie, unter allen Umständen auch nur die Möglichkeit eines ungewollt verursachten Fehlers auszuschließen. Sie versuchen, jeglichen Flecken zu tilgen. Sie sterilisiern.
Und letzten Endes schaffen sie dadurch eine unmenschliche, lebensfeindliche Umgebung. Das Sabbathgebot, eingerichtet zur Entlastung, wird verzerrt, wird zu einer nur schwer tragbaren Last. (Matth.12,1-6)
Die Suche nach Gott, das Handeln im Glauben im Alltag wird ersetzt durch Exegesefragen und Rechtsstreitigkeiten. Die Frage nach exakter Auslegung des Wortlautes wird wichtiger als die Frage nach Intention. Die Frage nach korrekter Form wird wichtiger als die Frage nach Inhalt.
Schließlich mündet dies in einen sehr ungesunden Zustand: Der Weg der Leistung und der Strenge mündet darin, sich selbst zu rechtfertigen. Sich über den anderen zu erheben. Seine eigene Leistung dazu zu benutzen, den anderen zu erniedrigen und sich selbst über ihn zu setzen. "Herr hab dank, dass ich nicht so bin wie jener dort". (Luk.18,9-12)
Alfred Adler, Psychotherapeut und Schüler Freuds, beschreibt ein solches Verhalten in der von ihm begründeten Individualpsychologie.
Die Wahrnehmung eigener Minderwertigkeitsgefühle führt zu einem Verhalten der Kompensation und letzlich der Überkompensation. Eigene Mängel und Schwächen werden wahrgenommen, aber oft nur vorbewußt, denn sie schmerzen. Können bei sich selbst nicht zugelassen werden.
Daher werden sie nach Außen projiziert. Beim Anderen verstärkt und überzeichnet wahrgenommen.
Diese Projektion und der Versuch diese Schwächen zu kontrollieren und in den Griff zu bekommen führt jedoch dazu, den Mangel beim Anderen zu bekämpfen, anstatt bei sich selbst. (Mt.7,3)
So wird Pharisäertum aber letzten Endes auch ein Phänomen von Machtstruktur. Die Pharisäer sind eine herrschende Schicht. Sie haben die Macht. Sie setzten sich durch. Sie sitzen am Hebel. Sie bestimmen, was recht ist und was nicht. Und sie schaffen Unbequemes, was ihre Macht bedrohen würde, aus dem Wege: "Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbrächten." (Mk. 3,6)
Jesus hat mit den Pharisäern nicht "aufräumen" können. Auch in späterer Zeit bildeten sich in der Kirche Strukturen mit pharisäerischen Zügen heraus. War dies eine Begleiterscheinung der Ausbildung hierarchischer Strukturen? Quasi ein Virus, der diese Strukturen als Lebensraum ausfinding machte und sie befiel? Oder war es umgekehrt die pharisäerische Tendenz in bestimmten Kreisen der jungen Kirche, die genau die Bildung hierarchischer Machtstruktur katalysierte, forcierte, hervorbrachte?
Es geht weit über diesen Artikel hinaus und bleibt Aufgabe der Soziologie, den Zusammenhang zwischen hierarchischen Ordnungen in Gruppen, Machtstrukturen und Ausnutzung derselben zu erforschen. Und ebenfalls festzustellen, wie die Ausnutzung und Verzerrung von ursprünglich als sinnvoll eingesetzen Leitungsordnungen verhindert werden kann.
Zurück zum Thema:
Ein Verhalten heutzutage als Pharisäertum zu bezeichnen, ist eine ziemlich heftige Geschichte. Harte Kritik. Der Inbegriff alles Schlechten, was Glaube hervorbringen kann. Aber -und das ist die Kehrseite- es ist eben auch geäußerte Kritik. Hinweis auf die Wahrnehmung von Mißständen. Hinweis auf die Wahrnehmung von Fehlverhalten.
Wie geht man aber nun mit Kritik um? Da gibt es prinzipiell zwei Verhaltensweisen:
a) Man nimmt diese Kritik, zieht sich zurück und überlegt, ob und inwieweit an dieser Kritik etwas dran ist. Man denkt darüber nach. Kurz: Man reflektiert.
b) Man fühlt sich angegriffen. Man empört sich. Und geht in den Gegenangriff über.
Für das Verhalten a) ist als Voraussetzung notwendig, dass man bereits ein stabiles Selbstbild hat. Ein Selbstbild, das durch Kritik nicht sofort ins Wanken gerät. Ein Selbstbild, das Fehler durchaus erkennen und zulassen kann, weil Vertrauen in andere Teile des Selbst weiterhin tragen.
Das Verhalten a) führt im konkreten Fall nun dazu, dass man sich ernsthaft fragt: "Bin ich ein Pharisäer"?
Wodurch aber wird Verhalten b) ausgelöst?
Die Kritik und das Gefühl des Angegriffen-werdens führt dazu, dass das eigene Selbstbild in Gefahr gerät. Dies gilt es aber, wie oben erwähnt, unter allen Umständen zu vermeiden. Das darf nicht sein! Und dies ist die Basis der Empörung. Dies löst die Abwehrhaltung aus, und den Gegenangriff.
Das, was mit dem Begriff "Pharisäer" kritisiert wird, betrifft aber nun sehr stark die Persönlichkeitsstruktur, die im Verhalten b) beschrieben wird.
Somit könnte man sehr spitz auf den Punkt gebracht sagen: Wer sich hinsetzt, reflektiert und sich selbst fragt: "Bin ich ein Pharisäer?" -> der ist keiner.
Der, der wirklich ein Pharisäer ist, wird sich umgekehrt nie hinsetzen und über diese Kritik nachsinnen.
Somit ist der Versuch, bei jemandem Kritik anzubringen, indem man ihn auf sein Pharisäertum hinweist, von der Grundstruktur her schon zum Scheitern verurteilt.
Ein weiterer Gedanke:
Der Mensch hat -so die moderne Gehinrforschung- die Tendenz, Intentionalität und Selbstbezug in ein Geschehen hineinzuinterpretieren. Auch wenn es keinen objektiven Hinweis darauf gibt, erdichtet sich das menschliche Individuum Absichten. Phantasiert Zusammenhänge. Empfindet Ereignisse als auf sich selbst bezogen, für sich bedeutsam.
("Bestimmt haben die gerade über mich geredet ...").
Gerade bei Selbstwertproblemen ist diese Tendenz zu beobachten und verstärkt das Grundgefühl des Angegriffen-werdens. Die Umwelt wird sehr schnell als feindlich wahrgenommen, Mißtrauen wird zur dominierenden Einstellung.
Fakten können nicht mehr sachlich aufgenommen werden. Auch wenn es keine sachliche Grundlage dafür gibt, steht die Frage: "Bin ich gemeint?" sofort im Raum.
Leser, die den Autor nicht kennen, können Artikel wie diesen hier sicher relativ wertfrei lesen und darüber nachdenken.
Aber ich könnte wetten, dass manche unter den Lesern, die mit dem Autor eines solchen Artikels bekannt sind, ihn nicht lesen können, ohne sich sofort zu fragen: "Meint er mich?" - "Warum hat er diesen Artikel geschrieben?, Will er mich damit etwa kritisieren?" - "Bezeichnet er MICH als Pharisäer?"
Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, dass dieser Artikel auf einer ganz anderen Basis zustandegekommen ist und ich dabei NICHT an DICH gedacht habe? ;-)