2008-02-19

Gofi Müller: Was Leidenschaft killt (Re-Post)

Dieser Beitrag ist ein Repost eines Artikels von Gottfried Müller aus dessen inzwischen gelöschtem Bumerang-Blog (mit freundlicher Genehmigung des Autors).
Der Eintrag war dort vom Samstag, 14. Juli 2007. Er ist auch in gedruckter Form in Gofi's neuem Buch "Heiligwerden für Anfänger" (Brunnen Verlag 2008) erhältlich.




Was Leidenschaft killt


Eine Krise

Ich war eigentlich ganz froh, als ich merkte, dass ich krank wurde. Ein leichter grippaler Infekt, sonst nichts. Eine gute Gelegenheit, sich ohne schlechtes Gewissen aufs Sofa zu legen und eine Woche zu entspannen. Insgeheim legte ich mir folgenden Plan zurecht: Ich würde genau eine Woche krank sein und mich währenddessen erholen. Danach würde ich mich wieder mit Elan und Begeisterung in die Arbeit stürzen.

Nach genau einer Woche stand ich auf und wollte meine Rückkehr ins Dienstleben mit einem Gebetsspaziergang einläuten. Viel früher als geplant schleppte ich mich entkräftet und schwitzend wieder in unsere Wohnung. Ich war immer noch krank! Frustriert legte ich mich ins Bett. Ab jetzt genoss ich keine Minute mehr. Mich quälte ein schlechtes Gewissen. Ich konnte doch nicht einfach hier herumliegen! Ich musste doch etwas tun! Eine Art Identitätskrise im Kleinen baute sich auf. Was war ich wert, wenn ich nichts Wertvolles produzierte? Welche Art von Selbstbewusstsein kann einer haben, der nur unnütz im Bett liegt?

Anfänglicher Enthusiasmus

Als ich mich entschied, voll in die Jugendarbeit einzusteigen, geschah das aus Begeisterung. Ich lernte Jesus auf eine neue, mitreißende Art kennen, mitten in einer Lebenskrise. Fast unmittelbar darauf machte er mir klar, dass ich in einer Jugendgruppe vor Ort mithelfen sollte. Zunächst widerwillig, dann immer begeisterter ließ ich mich darauf ein. Ich spürte, dass dies mein Platz war. Mein Gabenspektrum schien auf diese Art von Arbeit abgestimmt zu sein. Leidenschaftlich stürzte ich mich in die Aufgaben und vernachlässigte darüber völlig mein Studium.

So kam es, dass ich zwei Jahre später Jugendevangelist wurde. Ich brannte dafür, dass Jugendliche zum Glauben an Jesus kamen. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand – bis zu dem Moment, als mich der grippale Infekt erwischte. In dieser Krise passierte es zum ersten Mal, dass ich innehielt und mich fragte: „Warum machst du eigentlich das, was du machst? Was treibt dich an? Woher kommt dein schlechtes Gewissen, nur weil du ein paar Tage lang nicht arbeiten kannst?“

Etwas war verloren gegangen

Mir fiel beim Nachdenken auf, dass mir etwas verloren gegangen war. Wann das passiert war, wusste ich nicht. Aber ich konnte ein Vorher und Nachher ausmachen. Vorher, ganz zu Anfang, handelte ich aus Liebe zu Jesus. Vieles, was ich aus dieser Leidenschaft heraus getan hatte, war ungeschickt, überzogen, manchmal sogar richtig lieblos gegenüber anderen Christen gewesen. Aber ich brannte lichterloh. Ich wollte die ganze Welt umkrempeln aus Liebe zu Jesus, notfalls im Alleingang.

Mittlerweile trieb mich etwas anderes an. Zum Beispiel der Gedanke, dass ich zu wenig arbeiten könnte. Schließlich gab es Menschen, die mich mit ihren Spenden unterstützten. Ich verglich mich mit anderen Vollzeitlerinnen und Vollzeitlern und war unangenehm berührt, wenn sie mehr Termine hatten, mehr Zeit im Büro verbrachten, weitere Wege fuhren und einen größeren Aktionsradius hatten als ich. Andererseits machte es mich stolz, wenn mein voller Terminkalender bestaunt wurde, wenn ich mehr Stunden arbeitete als andere und weiter herumkam als sie. Niemand war dafür verantwortlich, dass ich so empfand. Ich selbst war mein schlimmster Sklaventreiber.

Ohne es zu merken, hatte ich begonnen, mich über das zu definieren, was ich leistete. Mein Selbstwertgefühl hing davon ab, was ich produzierte und ob ich für irgendwen oder irgendwas ‚nützlich’ war. Meine Liebe zu Jesus dagegen schien bei dem, was ich tat, nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Drei Leidenschafts-Killer

Diese Krisen, in denen ich kurz anhalte und mich selbst hinterfrage, habe ich seitdem immer wieder. Es sind oft Phasen der Erschöpfung, in denen mir klar wird, dass von meiner ursprünglichen Leidenschaft so gut wie nichts übrig geblieben ist. In diesen Momenten, in denen ich fast zwangsläufig zur Ruhe komme, stelle ich mir die Frage: ‚Wie konnte es dazu kommen, dass meine Leidenschaft derartig abgenommen hat?’ Ich persönlich stoße immer wieder auf drei Ursachen:

1. Ziellosigkeit: Als ich enthusiastisch in die Jugendarbeit stürmte, hatte ich ein klares Ziel vor Augen. Ich wollte, dass die Jugendlichen, die zu meiner Jugendarbeit gehörten, Jesus kennen lernten, so wie ich ihn kennen gelernt hatte. Sie sollten verstehen, wie sehr er sie liebte, und nicht anders können, als ihn zurückzulieben. Ich hatte begriffen, dass Jesus sich nichts sehnlicher wünschte als das. Und ich hatte mich total mit seinem Anliegen identifiziert und versuchte, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

Heute arbeite ich nicht mehr auf lokaler sondern überregionaler Ebene. Ich habe nicht mehr eine konkrete Gruppe von Jugendlichen als Ziel meiner Bemühungen, sondern ‚die junge Generation’. Aber auch hier treibt mich dieses Ziel an – wenn ich es vor Augen habe. Ich bin davon überzeugt, dass Jesus der jungen Generation ein unglaubliches Angebot macht, und dass er möchte, dass ich – zusammen mit vielen anderen – ihnen dieses Angebot überbringe. Ich merke, wie mich Leidenschaft packt, wenn ich realisiere, worum es bei meiner Arbeit geht. Umgekehrt verkommt mein Beruf zum ‚Job’, wenn ich das Ziel aus den Augen verliere. Und das führt zu den anderen beiden Leidenschafts-Killern.

2. Routine: Dass ich meinen Beruf ‚erfolgreich’ (was immer das in meinem Metier heißt) ausübe, hat zu einem gewissen Teil mit meiner Begabung zu tun. Wie das Wort ‚Gabe’ schon sagt, handelt es sich hierbei um etwas, für das ich nichts kann. Zu einem anderen Teil hängt der ‚Erfolg’ meiner Arbeit von einem gewissen handwerklichen Geschick ab: Sprache ist ein Handwerk, das man lernen kann und in dem man sich weiterbilden muss.

Die Gefahr der Routine besteht darin, dass ich, wenn ich das Ziel aus den Augen verliere, die vor mir liegenden Aufgaben leidenschaftslos abarbeite und mich dabei auf mein Handwerk verlasse. Das ist ganz leicht. Ich bin immer noch in der Lage, Zuhörer zu beeindrucken. Und verrückter Weise lässt Gott sich nicht davon abhalten, dadurch zu wirken und sogar Wunder zu tun. Derjenige, der hierbei den größten Schaden davonträgt, bin ich selbst. Ein routinierter, leidenschaftsloser Dienst für Jesus höhlt denjenigen aus, der ihn tut. Wer in diese Sackgasse eingebogen ist, hat großes Glück, wenn er krank wird und Zeit zum Nachdenken findet.

3. Leistungsdruck: Eine andere Folge von Ziellosigkeit. Wer nicht mehr nach vorne schaut, schaut zur Seite. Und neben sich entdeckt er die anderen Arbeiterinnen und Arbeiter für Jesus. Was liegt da näher, als sich miteinander zu vergleichen und imaginäre Hierarchien aufzustellen? Leistungsdruck hat eher selten seine Ursache in fordernden Vorgesetzten oder unzufriedenen Gemeindemitgliedern. Häufiger ist es meine mangelnde Selbstachtung oder mein fehlgeleitetes Pflichtgefühl oder meine Profilneurose, die mich antreiben. Die Sklaventreiber sind in uns, nicht um uns herum. Ich stelle mir meinen persönlichen Sklaventreiber als einen Fahrrad fahrenden Preußen vor, der aus lauter Pflichtgefühl und Geltungsbedürfnis nicht aufhören kann zu radeln.

Um die Leidenschaft bei von Leistungsdruck geplagten Menschen wieder neu zu entfachen, hilft nur eines: Entspannung. Auch wenn ein deutsches Sprichwort uns einschärft: ‚Müßiggang ist aller Laster Anfang’. Sehr viel häufiger ist es die Überlastung, die der Anfang aller Laster und der Killer jeder Leidenschaft ist. Wer überlastet ist, greift zu zweifelhaften Seelentröstern, zu denen auch bei christlichen Vollzeitlerinnen und Vollzeitlern nicht selten Alkohol und Pornografie gehören.

Der Verlust der Leidenschaft für das, was wir tun, beginnt da, wo wir Jesus aus den Augen verlieren. Wer erkennt, dass Jesus sie oder ihn liebt, kann nicht anders, als ihn zurückzulieben. Wer Jesus liebt, kann nicht anders, als das leidenschaftlich zu wollen, was er will.

Glaube, Spiritualität, Aktivismus

In einem kürzlich veröffentlichten Blogpost schreibt Waldy(Schrotty) über das Thema "Wie kann ich geistlich fit bleiben?" .

Das Thema ist aktuell. Für viele. In vielen Gemeinden ist es leicht, in den Aktivismus mit hineingenommen zu werden. Schon bei Eintritt in die Mitgliedschaft wird darüber sinniert, was denn die Gaben (oft mit Begabungen verwechselt) sind, und an welchen Stellen sie denn in Form von Mitarbeit eingebracht werden können. Es geht im Wesentlichen um Aktivitäten.

Gerade in der heutigen Zeit ist aber wichtig, dass der spirituelle Aspekt wieder entdeckt und als Alternative zur Hektik der Umwelt gelehrt und gelebt wird.
Doch scheint mir irgendwie, dass Gemeinden so sehr verlernt haben, Spiritualität wirklich zu leben und zu vermitteln, dass man streckenweise wieder ganz von unten anfangen muss, das Thema neu zu entdecken. Vieles ist im Alltag der Gemeinde verschüttet worden.

Vor einiger Zeit habe ich selbst einen Kommentar-Artikel zu Gofi Müllers "Was Leidenschaft killt" geschrieben. Aber irgendwie war ich zu der Zeit selbst noch in einer Denk-Falle, denn die angesprochene Problemlösung scheint mir heute einfach nicht weit genug zu gehen.

Es muss viel stärker thematisiert werden, was Schrotty im Titel eines anderen Artikels ausdrückt: "Meine Zeit für Gott ersetzt niemals die Zeit mit Gott...".

Ich wünsche mir sehr, dass das Problem des Gemeinde-Aktivismus und von "Mitarbeiter statt Mitbruder" stärker angesprochen und bewußt angegangen wird. Mein Empfinden ist: So wie es jetzt ist, geht es nicht weiter.

Leider ist es so, dass wenig konkrete Hilfe für den Umgang im Alltag gegeben wird. Deine Spiritualität ist deine Privatsache. Und wenn du dann wirklich am Rande der (geistlichen) Erschöpfung stehst und denkst: "Bitte kein weiterer Termin, keine weitere Projektgruppe, Planungsrunden, Arbeitskreistreffen, Konferenzbesuche ...", oder auch lediglich "bitte keine weitere Andacht, Predigt, Bibelarbeit, Artikel, vorbereiten müssen...", dann hat jemand genau die Lösung für dich parat:
"Fahr doch einfach einmal ein paar Tage auf eine Einkehrfreizeit! Danach geht es dir bestimmt wieder besser".

Für das geistliche Leben gilt aber das Gleiche wie für den Herzinfarkt: Reha und Weitermachen wie bisher ist nicht die Lösung.

Der Lebensstil muss sich ändern. Einschneidend ändern. Aber auch das Umfeld, muss eine neue, gesunde Haltung mitentwickeln. In einer Umgebung, in der die fromme Fassade, das heile Image, mehr zählt, als der wahrhaftige Umgang mit den Problemen des Glaubens, wo der Einzelne an seinem Output bewertet wird und nicht mehr als Mensch an sich wahrgenommen wird, kann man sich keine Schwäche leisten.
In einem Umfeld in der hektischer Aktivismus, fettiges Essen und Alkohol weiterhin vorherrscht, ist der nächste Herzinfarkt vorprogrammiert.

Schafft eine Gemeinde jedoch den Schwenk dahin, als Gemeinschaft den Einzelnen wieder zu tragen, seines und allgemein das geistliche Leben wieder zu fördern und zum Hauptziel zu machen, wird eine seelsorgerliche Grundatmosphäre aufgebaut und geistliches Leben wieder als das Wesentliche der Gemeinschaft (der Menschen und mit Gott) erfahren.

Die Sehnsucht des Menschen geht dahin, geliebt zu werden und nicht bewertet. Liebevolle Annahme ist das wesentliche Element, was z.B. eine positive Eltern-Kind-Beziehung ausmacht. Ein Vater soll sein Kind nicht nach seinen (z.B. schulischen) Leistungen beurteilen. Das Kind sehnt sich nach der bedingungslosen Liebe, die tiefer geht. Die über die Äußerlichkeiten hinausgeht.

Von der Kanzel predigen wir gerne, dass Gott der Vater uns in dieser Weise liebt und annimmt. Und doch spricht das Leben auch in Gemeinde oftmals eine andere Sprache. (Es muss nicht gleich in Lieblosigkeit ausarten, Vernachlässigung dieses Prinzips reicht schon).
Die Wahrheit dieser Worte kann aber nur im tatsächlichen Miteinander der Menschen, die diese Worte predigen, als heilsame Wirklichkeit erfahren werden.
Wer Gottes Liebe und Güte predigt und nicht liebevoll und gütig mit sich selbst umgeht, macht sich und seine Lehre unglaubwürdig. Und gerade Leiter von Gruppen stehen da nicht nur für sich, sondern für die Gemeinschaft, die sie repräsentieren.

Ich glaube einfach, dass das Erleben dieser spirituellen Form von Gemeinschaft weitaus mehr nach Außen wirkt, als es die vielen Programme, Aktionen und Projekte tun. Ich habe ganz stark den Verdacht, dass die Menschen mit denen wir in Kontakt kommen, viel weniger an unseren "Angeboten" interessiert sind, und viel mehr Wert auf die Wahrnehmung des christlichen Wesens legen. Sie wollen wissen "wer bist du", und nicht "was machst du".
Sie wollen sehen "wie lebst du", und nicht "was sagst du".

Denn die Grundfrage ihres Lebens ist auch nicht: Was kann ich sagen und tun?
Die Grundfrage des Lebens ist: Wer darf ich sein, wie kann ich leben?

Hier fällt mir gerade der Klassiker "Haben oder Sein" von Erich Fromm ein. Aber in heutigen Gemeinden geht es nicht mehr um das Haben, als vielmehr um das Tun, was dem Sein im Wege steht.