2007-11-08

JA-GoDi: Gottesdienst - alttestamentlich

Weiter geht es in der Reihe zum Arbeitsmaterial "Jahresaufgabe Gottesdienst" der Jugendarbeit des Bundes Freier evangelischer Gemeinden.

Der zweite Artikel, von Ingo Briel, ist betitelt mit: "Gottesdienst in der Hebräischen Bibel" und führt uns in das Gottesdienstwesen des Alten Testamentes ein, wobei der Begriff "Altes Testament" bewußt durch "Hebräische Bibel" ersetzt wird, um ein falsches Verständnis von "alt" als gleichbedeutend mit "überholt" zu vermeiden.


Bedenke ich die Tendenzen in der postmodernen Debatte, so scheint mir diese Gefahr weniger zu bestehen, da dort durchaus eine unter dem Begriff Retro-Spiritualität geführte Diskussion gerade die Suche nach Ursprünglichem in den Gestaltungsweisen hervorbringt statt sie zu vermeiden.

Allgemeines

Dieser Abschnitt, als Einleitung, glänzt in meinen Augen damit, dass er drei Grundaussagen trifft, die es tatsächlich in der Diskussion um Gottesdienstgestaltung zu beachten gilt:

1.) "Zum einen findet man in der HB nicht eine einheitliche Form des Gottesdienstes"
2.) "Zum anderen muss man bedenken, dass es im Laufe der Geschichte Israels eine Reihe von Veränderungen in der Gottesdienstpraxis gegeben hat."
3.) "[...]zwei Traditionen, die den Gottesdienst in Israel zu jeder Zeit ausgezeichnet haben: Die Begegnung mit dem heiligen Gott und das Bekenntnis zu ihm als Retter Israels."

Meiner Ansicht nach eröffnen diese drei Aussagen eine weite Tür, die es ermöglicht, Form und Durchführung von Gottesdiensten prinzipiell zu hinterfragen. Es gibt eben keine Form und keine Praxis, die als konstitutiv für den Gottesdienst aus den ältesten Schriften bereits abgeleitet werden kann. In diesem Wissen muss man also jeder voreiligen Ablehnung von Formänderungsvorschlägen und Praxisexperimenten prinzipiell in der Weise kritisch gegenüberstehen, ob diese tatsächlich theologisch begründet, seelsorgerlich begründet oder möglicherweise nur in einem starren Festhalten an einer bestimmten Kulturform und einer Inflexibilität in der Denkweise begründet ist.

Gerade was die theologische Begründung angeht, liefert der dritte Punkt aber zwei kraftvolle Prüfsteine für die Beurteilung von Formen und Praxis, und zwar sowohl der neu anzudenkenden als auch der aktuell ausgeübten.

Die Leitfragen können dabei sein:

  • Was bedeutet eigentlich "Begegnung mit Gott"?
  • Wie/Wodurch findet diese statt?
  • Welche (Ausdrucks-)Formen ermöglichen ein authentisches, freies, ehrliches Bekenntnis?

Die Begegnung mit dem heiligen Gott

Dieser Abschnitt enhält drei wichtige Punkte. Erstens, dass zu einem Gottesdienst im alten Testament eine Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott gehörte, zweitens, dass Gottesdienst durch Ehrfurcht vor Gott geprägt war und drittens, dass eine Reaktion auf die Begegnung mit Gott quasi als Verpflichtung angesehen wurde und somit konkrete Auswirkungen auf den Alltag hatte.

Speziell aus dem Punkt der Vorbereitung möchte ich hier noch einen Abschnitt hervorheben:

"Somit lässt sich festhalten, dass der Gottesdienst in der HB nie unvorbereitet begangen wird. Er erforderte eine zeitliche und körperliche Vorbereitung. Der Pilger stellt sich auf die Begegnung mit Gott ein und erhofft eine Veränderung seiner Lebenssituation durch die Zuwendung Gottes: rettende Hilfe und lebensermöglichenden Segen. Das zeigt, dass der Pilger den Gottesdienst mit einer konkreten Erwartung begeht, die sich aus seiner Lebenssituation ergibt." (Hervorhebungen von mir).

Interessant ist hier, dass relativ unvorbereitet das Wort 'Pilger' eingeführt wird. Zum Tempel zu gehen bedeutete also, zum Teil erhebliche Mühen auf sich zu nehmen, um aktiv die Gottesbegegnung zu suchen. Dieser Aspekt gerät heute fast vollständig ins Hintertreffen, wo die größte Mühe für manche lediglich darin besteht, sonntags morgens frühzeitig aus dem Bett zu kommen. Auch ist für uns in der nach-neutestamentlichen Zeit Lebende die Vorstellung eines Gottes, der im Tempel seinen Wohnsitz hat, aufgehoben, wodurch der Besuch des Gottesdienstsaales seine besondere Heiligkeit in Relation zu alltäglichen Orten zu alltäglichen Zeiten nicht mehr in dem Maße aufweist, wie es für den alttestametarischen Israeliten bestanden haben muss. Gottesbezug, Gottesbegegnung hat viel mehr mit dem Hier und Jetzt, mit dem Ich und Du, als mit dem besonderen Ort und der besonderen Zeit zu tun.
Die Vorstellung, dass ich in ausgezeichneter Weise im Gottesdienst(-saal) Gott begegnen kann, darüberhinaus aber eher weniger, scheint in heutiger Zeit ein krasser Widerspruch zu Gottes Allgegenwart, allgegenwärtigem Handeln und dem Gesandtsein in die Welt (=Alltag) zu sein. Prinzipiell kann ich überall -zu jeder Zeit an jedem Ort- Gott begegnen, indem ich mich aus der Hektik zurückziehe und mich auf die Gegenwart Gottes, die sowieso schon besteht, einlasse.
Dadurch wird der Gottesdienst als zeitlich und örtlich gebundes Ereignis weniger zu einer Begegnung mit dem Heiligen, als es für den Israeliten der Fall war. Vielmehr zu einem 'Date', welches sich zwar durch besondere Handlungen und besonderes Zeit Nehmen für die Begegnung (Hinwendung) hervorhebt, jedoch nicht im Grundwesen von anderen Zeiten unterscheidet.

Und doch zeigt die zweite Hervorhebung, dass auch für den frühen Israeliten eine enge Verbindung zwischen der Gottesbegegnung und seinem Lebensalltag bestand. Das Aufsuchen der Gottesbegegnung, das Auf-sich-nehmen der Mühe war mit der konkreten Absicht verbunden, aus dieser Begegnung nicht unverändert hervorzugehen. Diesen Punkt gilt es auch heutzutage zu beachten, und zwar sowohl als Gottesdienstbesucher als auch gerade als Gottesdienstgestalter. Für Letztere ist die Frage relevant: "Ermöglicht unser Gottesdienst es den Besuchern, aus dem Gottesdienst verändert herauszugehen? Fördert er dieses Erleben?".

Bedeutung für heute

Während der vorherige Abschnitt einige durchaus nachdenkenswerte Impulse aus der Darstellung des alttestamentlichen Gottesdienstverständnisses bereithält, verliert dieser zweite Abschnitt in meinen Augen einiges. Als logische Konsequenz aus dem vorher Gesagten wird natürlich abgeleitet, dass für uns eine Vorbereitung auf Einstimmung auf den sonntäglichen Gottesdienst anzuraten sei und dazu konkret vorgeschlagen, sich die eigene Lebenssituation und seine Erwartungen vor dem Gottesdienstbesuch bewusst zu machen und mit Gottes Gegenwart und seiner Reaktion auf meine Bedürfnisse zu rechnen. Dazu wird angeraten, sich kokreter auf den Gottesdienst vorzubereiten und zu diesem Zweck auch einmal vor diesem jeweils einen der Wallfahrtspsalmen zu lesen. Auch der Hinweis, dass eine Gottesdienstvorbereitung nicht erst sonntags morgens beginnen könne, sondern bereits am Samstag abend beginne, ist sicher ein Punkt, der angesprochen werden kann, aber nicht als generellen Rat ohne Beachtung persönlichen Typusses und persönlicher Zugangsweisen des Einzelnen in dieser Form gemacht werden sollte.

Besondere Aufmerksamkeit erregte bei mir dann folgender Absatz:

"Dabei ist die Praxis zu hinterfragen, ob lange Feiern, inklusive Alkohol und Nächte durchfeiern, eine gute Vorbereitung auf den Gottesdienst sind. Der Genuss von Alkohol an sich stellt dabei nicht das Problem dar, solange es in Maßen geschieht. Auch das Weggehen und Feiern mit Freunden ist nicht das Problem. Nur wird dabei öfter der Gottesdienst am nächsten Morgen vergessen. Entweder wird er im eigenen Bett oder im Gottesdienstraum der Gemeinde verschlafen."

Interessant ist hier, dass eine nicht unerhebliche Erwartungshaltung an die Gottesdienstbesucher und deren Einstellung und Verhalten zu Tage tritt. Nicht hinterfragt wird aber die "gängige Praxis", trotz der Veränderungen in der Gesellschaft um uns herum in Bezug auf die Wochenendgestaltung Gottesdienste am Sonntag Morgen stattfinden zu lassen. Diese Praxis stellt sich aber zunehmend als nicht mehr zeitgemäß heraus. Gerade in einer Zeit, wo die Absonderung der Christen aus dem Rest der Gesellschaft (á la "ein Christ geht sonntags nicht auf den Fußballplatz!") nicht mehr funktioniert und diese gleichzeitig immer weniger Rücksicht auf religiöse Vorgaben nimmt, wäre es angeraten, über kulturkompatible Gottesdienstzeiten neu nachzudenken.

Hervorheben möchte ich abschließend den auch im Original hervorgehobenen Schlusssatz:

"Die Begegnung mit Gott im Gottesdienst sollte weder etwas Überraschendes und Seltenes, noch bloße Routine sein. Die Begegnung mit Gott kann nur das bleiben, was sie ist: lebensverändernd."

Hacker's Emblem

Heute habe ich (schon lange überfällig) auf dem Otherblog das Hacker Emblem angebracht:


hacker emblem


Ein Zitat aus der deutschen FAQ zum Logo gibt wieder, warum diese Tatsache und das Logo auch im Zusammenhang dieses Blogs, welches sich u.a. mit Emergent Church -bzw. Kirche und Glaube in zeitgenössischer Gesellschaft- beschäftigt, erwähnenswert ist:

Was ist das Logo?

Die Grafik oben auf dieser Seite symbolisiert einen Glider. Er beeinhaltet ein Muster einer mathematischen Simulation, genannt The Game of Life. In dieser Simulation geht es um einfache Regeln, wie sich Punkte in einem Gitter verhalten sollen. Dabei tauchen wundervoll komplexe Phänomene auf. Der Glider ist das einfachste Lebensmuster, das sich bewegt und gleichzeitig das wahrscheinlich am einfachsten wiederzuerkennende Muster.

[...]

In The Game of Life führen simple Regeln zu unerwarteten, verblüffend komplexen Mustern, welche sich nicht aus den Erkenntnissen bereits aufgetauchter Phänomene voraussagen lassen. Dies ist eine hübsche Parallele zum Phänomen der unerwarteten und überraschenden Entwicklung der Open Source-Gemeinschaft.

Da die Emergent Church Bewegung auch enge Verbindung zur Internetkultur hat und auch durch den Open Source Gedanken angeregt wird, sehe ich hier einen interessanten Zusammenhang zwischen dem Logo der Hacker-Kultur, der Theorie hinter dem Game of Life, dem Social Networking und der Emergent Church.

Faszinierend ...

(Ref: siehe auch: Agile Manifesto - Zusammenhang zwischen Agiler Software-Entwicklung, Postmoderne und Kirche)

2007-11-02

Die eigene Wahrnehmung wahrnehmen

In einem Blog-Kommentar bei DoSi schrieb ich:

Jedwedes Verständnis der Schrift ist immer auch vom Lesenden/Interpretierenden abhängig. Du bist immer Teil des Auslegungsprozesses, in ähnlicher Weise wie in der Quantenphysik der Beobachter zum Teil des Beobachtungsprozesses wird und dadurch das Beobachtungsergebnis beeinflusst und durch die Beobachtung selbst verändert wird.
Diese Subjektivität der Wahrnehmung ist nun etwas, was mich weiterhin beschäftigt.

Die Frage ist nun, ob ich nicht nur der Tatsache meiner eigenen Beteiligung am Leseprozess als solcher gewahr werden kann, sondern sogar das
Wie dieser subjektiven Veränderung der Wahrnehmung erkennen und bewußt wahrnehmen kann.

Dazu müsste ich meinen eigenen Wahrnehmungsprozess wahrnehmen. Nun heißt es aber, ein Auge nehme sich nur dann selbst wahr, wenn es krank ist. Ein gesundes Auge wird selbst nicht wahrgenommen.

Ein interessantes Bild, dem ich aber ein anderes gegenüberstellen möchte:

In meiner Gemeinde mache ich auch die Beschallungstechnik, d.h. ich sitze hinter dem Mischpult, welches sich rechts hinten in der Ecke im Saal befindet, und mische den Klang.

Das Problem hierbei ist, dass ich dort leicht einseitig beschallt werde, und durch die Nähe zur Wand sich auch bestimmte klangliche Veränderungen ergeben.

Um für die Zuhörer im Saal einen optimalen Klang zu erzeugen, muss ich daher immer wieder einmal den Mischpult-Platz verlassen und durch den Raum wandern, hören, wie der Klang sich an anderen Stellen im Saal anhört.

Auf diese Weise lerne ich den Unterschied zwischen dem optimalen Saalklang und dem Klang an meiner Mischerposition kennen und weiß schließlich, wie meine Wahrnehmung dort sich von der Wahrnehmung an anderen Plätzen unterscheidet.

Dadurch weiß ich, dass ich am Mischerplatz z.B. die Tiefen ruhig ein wenig weiter aufdrehen kann, als ich es eigentlich richtig empfinde, dass ich insgesamt nicht ganz so laut aufdrehen darf, wie ich eigentlich gerne würde, und das es OK ist, dass ich mehr vom rechten Kanal höre als vom linken.

Um das Bild zu verlassen: Ich frage mich, ob es möglich ist, vor oder während des Lesens und Auslegens eines Textes meine eigene Position und die daraus resultierenden Verzerrungen zu reflektieren, und dadurch die Auslegung selbst feiner zu justieren oder sogar meine Wahrnehmung des Textes von meiner Position zu relativieren.

Dazu ist natürlich folgendes notwendig: Genauso, wie ich als Tontechniker mich aktiv an eine Position begeben muss, und mich ggf. durch Tricks wie Ohren zuhalten auch in die Lage eines weniger gut hörenden Zuhörers versetzen muss, muss der auslegende Leser sich bewußt in die Lage von Zuhörern mit anderer Disposition versetzen. Extremes, aber deutliches Beispiel: Wie mag eine weibliche Zuhörerin empfinden, wenn wir zusammen Paulus' Aufforderung lesen, dass die Frau in der Gemeinde schweige?
Eine solche Haltung des Hineinversetzens in den Anderen nennt die Psychologie "Empathie".

Wenn ein Tontechniker eine Band abmischt, ist es jedoch nicht nur von Bedeutung, dass er den Saalklang im Griff hat und ihn für alle Zuhörer bestmöglich zubereitet. Auch der Klang der Monitore, über den sich die Musiker selber hören, ist von Bedeutung. Und da muss der Techniker auch mal auf die Bühne und sich anhören, wie ein Sänger sich selbst an seinem eigenen Platz hört. Dann wird schnell klar, dass ggf. eine falsche Klangeinstellung der Monitorboxen dafür verantwortlich ist, dass der Sänger versucht, "besser" zu klingen und dabei seine Stimme verstellt, oder er so unsauber singt, weil er sich aufgrund der Umfeldgeräusche einfach nicht selber hört und quasi "blind" versucht, die Melodie auf die Reihe zu bekommen.

Ebenso ist für den Ausleger alter Texte von Bedeutung, dass er lernt, den Text aus der Position des Autors zu lesen. Dass er über die Umstände bescheid weiß, unter denen der Text zustande kam, und zu verstehen versucht, wer der Autor war und in welcher Lage er sich befand und für wen er schrieb.

Leider müssten wir, um dies so erfolgreich zu tun, wie ein Tontechniker, der auf die Bühne steigt, eine Zeitmaschine besitzen. Aber auch gute Sekundärliteratur über die Historie kann ein Augenöffner für die Auslegung von Texten sein, wie ich zur Zeit an Rob Bells "Jesus unplugged" wieder erfahre.

Auch wenn es uns schwer fällt, uns von unserer momentanen Position zu lösen, um einen Text wirklich beurteilen zu können, so ist es schon sehr hilfreich, zu verstehen, dass man dies eigentlich tun müsste. Das einem bewusst wird, dass die Auslegung, die man selber nun vornimmt, durch die eigene Position gefärbt ist und daher auch nicht absolut die richtige für alle Zeiten und Orte sein kann.

Problematisch wird Tontechnik dann, wenn der Tontechniker zu unerfahren oder zu faul ist, seinen Platz zu verlassen und einfach glaubt, er hätte von seinem Mischerplatz aus alles im Griff. Gleiches gilt auch für die Textauslegung. Die Annahme, meine Position sei die einzig mögliche und meine Wahrnehmung die einzig vorhandene führt im Endeffekt zu unbefriedigenden Resultaten und Frust bei den anderen Zuhörern.

Tontechnik ist nun, wie auch Kameratechnik, doch mit dem oben genannten Auge zu vergleichen. Erst wenn man sie selbst nicht wahrnimmt (kein Knistern, kein Bildwackler usw.) kann der Inhalt der Präsentation genossen und erlebt werden. Ebenso ist es bei der Auslegung. Je geschickter die Auslegung vorgenommen wird und je weniger die Tatsache des Auslegens bemerkbar wird, umso mehr tritt der Ausleger als Medium in den Hintergrund und der Text fängt an direkt zum Zuhörer zu sprechen und an ihm zu wirken.