2007-11-02

Die eigene Wahrnehmung wahrnehmen

In einem Blog-Kommentar bei DoSi schrieb ich:

Jedwedes Verständnis der Schrift ist immer auch vom Lesenden/Interpretierenden abhängig. Du bist immer Teil des Auslegungsprozesses, in ähnlicher Weise wie in der Quantenphysik der Beobachter zum Teil des Beobachtungsprozesses wird und dadurch das Beobachtungsergebnis beeinflusst und durch die Beobachtung selbst verändert wird.
Diese Subjektivität der Wahrnehmung ist nun etwas, was mich weiterhin beschäftigt.

Die Frage ist nun, ob ich nicht nur der Tatsache meiner eigenen Beteiligung am Leseprozess als solcher gewahr werden kann, sondern sogar das
Wie dieser subjektiven Veränderung der Wahrnehmung erkennen und bewußt wahrnehmen kann.

Dazu müsste ich meinen eigenen Wahrnehmungsprozess wahrnehmen. Nun heißt es aber, ein Auge nehme sich nur dann selbst wahr, wenn es krank ist. Ein gesundes Auge wird selbst nicht wahrgenommen.

Ein interessantes Bild, dem ich aber ein anderes gegenüberstellen möchte:

In meiner Gemeinde mache ich auch die Beschallungstechnik, d.h. ich sitze hinter dem Mischpult, welches sich rechts hinten in der Ecke im Saal befindet, und mische den Klang.

Das Problem hierbei ist, dass ich dort leicht einseitig beschallt werde, und durch die Nähe zur Wand sich auch bestimmte klangliche Veränderungen ergeben.

Um für die Zuhörer im Saal einen optimalen Klang zu erzeugen, muss ich daher immer wieder einmal den Mischpult-Platz verlassen und durch den Raum wandern, hören, wie der Klang sich an anderen Stellen im Saal anhört.

Auf diese Weise lerne ich den Unterschied zwischen dem optimalen Saalklang und dem Klang an meiner Mischerposition kennen und weiß schließlich, wie meine Wahrnehmung dort sich von der Wahrnehmung an anderen Plätzen unterscheidet.

Dadurch weiß ich, dass ich am Mischerplatz z.B. die Tiefen ruhig ein wenig weiter aufdrehen kann, als ich es eigentlich richtig empfinde, dass ich insgesamt nicht ganz so laut aufdrehen darf, wie ich eigentlich gerne würde, und das es OK ist, dass ich mehr vom rechten Kanal höre als vom linken.

Um das Bild zu verlassen: Ich frage mich, ob es möglich ist, vor oder während des Lesens und Auslegens eines Textes meine eigene Position und die daraus resultierenden Verzerrungen zu reflektieren, und dadurch die Auslegung selbst feiner zu justieren oder sogar meine Wahrnehmung des Textes von meiner Position zu relativieren.

Dazu ist natürlich folgendes notwendig: Genauso, wie ich als Tontechniker mich aktiv an eine Position begeben muss, und mich ggf. durch Tricks wie Ohren zuhalten auch in die Lage eines weniger gut hörenden Zuhörers versetzen muss, muss der auslegende Leser sich bewußt in die Lage von Zuhörern mit anderer Disposition versetzen. Extremes, aber deutliches Beispiel: Wie mag eine weibliche Zuhörerin empfinden, wenn wir zusammen Paulus' Aufforderung lesen, dass die Frau in der Gemeinde schweige?
Eine solche Haltung des Hineinversetzens in den Anderen nennt die Psychologie "Empathie".

Wenn ein Tontechniker eine Band abmischt, ist es jedoch nicht nur von Bedeutung, dass er den Saalklang im Griff hat und ihn für alle Zuhörer bestmöglich zubereitet. Auch der Klang der Monitore, über den sich die Musiker selber hören, ist von Bedeutung. Und da muss der Techniker auch mal auf die Bühne und sich anhören, wie ein Sänger sich selbst an seinem eigenen Platz hört. Dann wird schnell klar, dass ggf. eine falsche Klangeinstellung der Monitorboxen dafür verantwortlich ist, dass der Sänger versucht, "besser" zu klingen und dabei seine Stimme verstellt, oder er so unsauber singt, weil er sich aufgrund der Umfeldgeräusche einfach nicht selber hört und quasi "blind" versucht, die Melodie auf die Reihe zu bekommen.

Ebenso ist für den Ausleger alter Texte von Bedeutung, dass er lernt, den Text aus der Position des Autors zu lesen. Dass er über die Umstände bescheid weiß, unter denen der Text zustande kam, und zu verstehen versucht, wer der Autor war und in welcher Lage er sich befand und für wen er schrieb.

Leider müssten wir, um dies so erfolgreich zu tun, wie ein Tontechniker, der auf die Bühne steigt, eine Zeitmaschine besitzen. Aber auch gute Sekundärliteratur über die Historie kann ein Augenöffner für die Auslegung von Texten sein, wie ich zur Zeit an Rob Bells "Jesus unplugged" wieder erfahre.

Auch wenn es uns schwer fällt, uns von unserer momentanen Position zu lösen, um einen Text wirklich beurteilen zu können, so ist es schon sehr hilfreich, zu verstehen, dass man dies eigentlich tun müsste. Das einem bewusst wird, dass die Auslegung, die man selber nun vornimmt, durch die eigene Position gefärbt ist und daher auch nicht absolut die richtige für alle Zeiten und Orte sein kann.

Problematisch wird Tontechnik dann, wenn der Tontechniker zu unerfahren oder zu faul ist, seinen Platz zu verlassen und einfach glaubt, er hätte von seinem Mischerplatz aus alles im Griff. Gleiches gilt auch für die Textauslegung. Die Annahme, meine Position sei die einzig mögliche und meine Wahrnehmung die einzig vorhandene führt im Endeffekt zu unbefriedigenden Resultaten und Frust bei den anderen Zuhörern.

Tontechnik ist nun, wie auch Kameratechnik, doch mit dem oben genannten Auge zu vergleichen. Erst wenn man sie selbst nicht wahrnimmt (kein Knistern, kein Bildwackler usw.) kann der Inhalt der Präsentation genossen und erlebt werden. Ebenso ist es bei der Auslegung. Je geschickter die Auslegung vorgenommen wird und je weniger die Tatsache des Auslegens bemerkbar wird, umso mehr tritt der Ausleger als Medium in den Hintergrund und der Text fängt an direkt zum Zuhörer zu sprechen und an ihm zu wirken.

1 Kommentar:

MindRevolution hat gesagt…

Schön das du mal über Selbstanalyse schreibst. Ist ja schließlich ein meiner Hobbys^^

Ich glaube auch, dass es sehr schwer sich bei einer Auslegung sich selbst zu beobachten und dies dann irgentwie auszuwerten bzw. ein Urteil über sich selbst zu fällen. Vor allem, weil man hier ja nicht sein Handeln objektiv beobachten kann, sondern der Text immer mit einer eigenen Meinung und der eigenen Erfahrungswelt verknüpft wird und das abzulegen ist sehr schwer.

Ich denke zum einen, dass, wie du schon gesagt hast, gute Sekundärliteratur sehr hilfreich sein kann um bestimmte Stellen besser und hoffentlich auch richtiger zu verstehen.
Ich denke es ist aber auch ein Hindernis für uns, dass oft kaum Paralellen zwischen unserer Situation und der, der Jünger oder anderer Beteiligten.
Wir sind reich, werden nicht verfolgt und haben nur wenig (oder gar keinen) Kontakt zu den Randgruppen unserer Gesellschaft.
Dadurch wird die Bibel für uns sicher weniger lebendig als für andere.